von Nathalie Hoyos
Wir schreiben das Jahr 1989. Es ist ein Jahr des Wandels und der politischen Umwälzungen. Die Welt befindet sich in einem Umsturz: Die jahrzehntelange politische Aufteilung in zwei Blöcke, Ost und West, wird durch den Fall der Mauer aufgelöst. Es ist das Ende einer Ära, der Beginn einer neuen Zeit – ein radikaler Neuanfang. Auch für EVA & ADELE.
Nachdem sie sich bei einem Künstlersymposium 1988 in Italien kennengelernt hatten und während eines mehrstündigen Tanzes ihre Anziehung füreinander entdeckten, kündigt sich die Perspektive für ein neues Leben an, das sich jenseits aller gesellschaftlichen Konventionen bewegt und den Grundstein einer lebenslangen Dauerperformance legt. Aber der Reihe nach.
Die Verwandlung zweier unabhängiger Künstlerpersönlichkeiten zum Paar EVA & ADELE erfolgt auf einer mehrere Monate dauernden Reise von Italien an einen der Ursprungsorte europäischer Kultur – Griechenland, das alte »Hellas«. Es entsteht das erste gemeinsame Kunstwerk: die Videoarbeit »Hellas«, 1989, eine siebenteilige Simultanprojektion, die den Weg zu einer gemeinsamen Wesenswerdung dokumentiert. Danach ziehen die beiden endgültig zusammen in ihre Wahlheimat Berlin.
Mit der Performance »Hochzeit Metropolis« im Rahmen der von Christoph Joachimides und Norman Rosenthal kuratierten Großausstellung »Metropolis« über den Stand der zeitgenössischen Kunst im Gropius Bau in Berlin im April 1991 ist die Marke EVA & ADELE besiegelt. Noch vor dem in Deutschland 2001 legalisierten Lebenspartnerschaftsgesetz zwischen gleichgeschlechtlichen Paaren bekennen sich die zwei Bräute vor der Öffentlichkeit zueinander. Von nun an sieht man sie nur noch gemeinsam. Keinen Tag sind sie getrennt. Immer gleich gekleidet, in selbst entworfenen extravaganten Kostümen, Accessoires, Schuhen – stets mit Absätzen, dem gleichen Make-up und die Köpfe kahlrasiert. Es ist das Erscheinungsbild, das wir von zahlreichen Kunstevents und Eröffnungen kennen, aber auch jenes, in dem sie ihre alltäglichen Besorgungen verrichten, Einkaufen, Arztbesuche usw. Es ist ein Leben als performativer Akt, der niemals endet, in dem sich die Grenzen zwischen Kunst und Leben auflösen. Sie werden selbst zum Kunstwerk.
Die Leitlinien für ihre Daseinsform haben sie 1992 in einem Manifest, das aus elf Slogans besteht, festgehalten. Es definiert den konzeptionellen Rahmen für ihren Kosmos als Lebensgesamtkunstwerk EVA & ADELE. In all ihren Werken tauchen diese Slogans wie ein Gütesiegel in unterschiedlichen Variationen auf: MEDIAPLASTIC, CUM, ART OF NATURE NATURE OF ART, FUTURING, WHERE EVER WE ARE IS MUSEUM, WORK OF ART, COMING OUT OF THE FUTURE, OVER BOUNDARIES OF GENDER, THE BEGINNING AFTER THE END OF ART. Dazu gehören das Logo und die feste Vorgabe für die Schriftform von EVA & ADELE – immer in Großbuchstaben. Ersteres besteht aus einem Herz, das ihre beiden glattrasierten Köpfe in Herzform zusammenfügt. Es wird als Signatur auf Werken verwendet, als Stempel auf Postkarten, als Neonzeichen oder als Hintergrund auf Bildern.

COMING OUT OF THE FUTURE
Mit der Zeitkapsel sind sie aus der Zukunft gelandet, um uns ihre Botschaft von Liebe, Sexualität, Freiheit und Toleranz zu übermitteln. Sie erscheinen als Wesen einer anderen Welt. Jenseits der Körpermaße: Größe, Oberweite, Taille und Hüfte sowie dem Hinweis »Coming out of the Future« werden keine biografischen Daten preisgegeben. Die Auslöschung der Vergangenheit und das Abwerfen des biografischen Ballasts bieten die Chance, sich selbst neu zu erfinden, eine Utopie zu leben. Für ihre Tätigkeit haben sie ein passendes Verb erfunden: FUTURING. Es ist der Anfang nach dem Ende der Kunst – THE BEGINNING AFTER THE END OF ART.
Was zunächst wie eine kühne Behauptung wirkt – »Wir kommen aus der Zukunft« – entpuppt sich bei näherer Betrachtung als nicht abwegig. Tatsächlich gibt die Gegenwart EVA & ADELE in vielen Aspekten recht. Ihre Zeitrechnung scheint auf wundersame Art und Weise einen Widerhall in der Gegenwart zu finden: Im Recht auf ein selbstbestimmtes Leben, das sich jenseits der heteronormativen Geschlechtermodelle bewegt, im Umgang mit den Medien und der Öffentlichkeit sowie in der Verbindung von Arbeit und Leben.
OVER THE BOUNDARIES OF GENDER
Sie bezeichnen sich selbst als »hermaphrodites Zwillingspaar« und treten Tag für Tag, sich möglichen Anfeindungen von außen aussetzend, für ein Leben jenseits der Geschlechtergrenzen ein. Diese Genderfluidität, die Freiheit, sich nicht auf eine definierte sexuelle Zuordnung festlegen zu lassen, spiegelt sich in ihrem Erscheinungsbild wieder. Den stets betont weiblichen Kostümen steht der zum Phallus kahlrasierte Kopf gegenüber. Mit dieser Haltung sind sie bereits vor den LGTBQ+ Communities der Gegenwart bewusst öffentlich queer.
CUM – MEDIAPLASTIC
Vorreiter sind EVA & ADELE im Umgang mit den Medien. Die Dokumentation ihrer Auftritte auf Ausstellungen und Biennalen, aber auch im Alltag, delegieren sie an das Publikum und bitten lediglich darum, einen Abzug des Fotos an sie zu schicken. So konnten sie mit der Zeit ein riesiges Archiv aufbauen. Schon lange bevor es soziale Netzwerke gab, bildet sich über die Jahre ein umfangreiches Netzwerk von Freunden und Fans auf der ganzen Welt. Durch ihre Kunst und ihre Persönlichkeit haben sie eine regelrechte Community erschaffen. Dieses Archiv ist die Grundlage für ihre Werkgruppe CUM, eine sich stets erweiternde Sammlung von momentan 222 ausgewählten Polaroids von 1991 bis 2023, die teilweise mit handschriftlichen Kommentaren versehen sind. Einige der Motive werden von den Künstlerinnen auch in Gemälde übertragen.
Die Titelgebung hat bei EVA & ADELE immer einen programmatischen Ansatz. Cum leitet sich aus dem lateinischen »mit« – dem Miteinander – ab. Das Partizipatorische, die Reaktionen des Publikums spielen bei ihrem Werkbegriff eine wesentliche Rolle. Sie geben damit auch einen Teil der Kontrolle über ihr Bild, ihre Autorenschaft ab und schaffen aus diesem Prozess neue Werke.
Auch über die klassischen Medien, die Zeitungen und das Fernsehen wird ihr Bild international verbreitet. Das trägt einerseits zu ihrer Bekanntheit bei, ist aber andererseits auch ein probates Mittel, ihre Anliegen in das öffentliche Bewusstsein zu rücken.
Die öffentliche Berichterstattung dient als Basis für »Mediaplastic«; eine Worterfindung des Künstlerduos, die sich auf den erweiterten Skulpturenbegriff der »sozialen Plastik« von Joseph Beuys bezieht. Die mediale Verbreitung des Bildes ist inhärenter Teil des Werks. Ähnlich wie bei CUM, werden die Artikel in Zeichnungen und Gemälde übersetzt.

WHERE EVER WE ARE IS MUSEUM
Am Anfang ihres gemeinsamen Lebensgesamtkunstwerks waren die Ratlosigkeit und Verwunderung seitens der Kunstwelt nicht gering. Aus dem Nichts erscheinen sie plötzlich auf Ausstellungseröffnungen – oft auch uneingeladen – mit dem Anspruch WHERE WE ARE IS MUSEUM. Sie erweitern damit den Museumsbegriff – es ist die logische Konsequenz der Aufhebung der Grenze zwischen Leben und Kunst. Der konventionelle, klassische institutionelle Rahmen ist nicht mehr notwendig: Das Museum ist immer dort, wo sie sind – sei es auf der Straße, im Supermarkt oder im Theater.
Auf Dauer wendete sich das Blatt, so dass sie mittlerweile sehr willkommene, ja umworbene Gäste sind, die in aller Welt eingeladen werden. Live oder über die Verbreitung ihres Bildes sind EVA & ADELE einem über die Kunstwelt hinausgehenden Publikum ein Begriff. Dass neben dem performativen Teil auch Zeichnungen, Malereien, Fotos, Skulpturen, Installationen und Videos entstehen, ist hingegen weniger bekannt. Und das, obwohl seit der ersten Einzelausstellung 1997 im Sprengelmuseum in Hannover etliche Präsentationen stattgefunden haben, etwa im Museum MOCAK in Krakau, im Musée d´Art Moderne de la Ville de Paris oder im me Collectors Room in Berlin.
Das Werk speist sich aus dem performativen Element. Das Eine kann ohne das Andere nicht existieren. Alles ist untrennbar mit dem öffentlichen Bild verbunden, das sie selbst erschaffen haben.

Die Ausstellung »The Present of the Future« im OK in Linz bietet einen Einblick in das Universum EVA & ADELEs und präsentiert Werke aus einer Zeitspanne von über dreißig Jahren.
Ein Highlight sind die »Berlin Polaroids«, 1988/89 – eine Auswahl von 180 der über 500 Polaroids wird erstmals in Linz ausgestellt. Sie stammen noch aus der Zeit vor 1991, als EVA & ADELE sich mit ihrer Performance »Hochzeit Metropolis« für immer aneinanderbinden, und dokumentieren eine Schminkaktion in der Wohnung von ADELEs Bruder in Berlin. Anders als bei den späteren Werken sind EVA & ADELE hier nicht die Hauptprotagonistinnen. Eingeladen wurden Nachbarn, Bekannte und Kollegen, insgesamt 15 Leute, und ließen sich von EVA & ADELE schminken. An den Polaroids lässt sich der Verlauf dieser Abende ablesen. Die einzelnen Personen inszenieren sich immer ausgelassener mit Schleiern und Kleidern vor der Kamera über die Grenzen der Geschlechterrollen hinaus.
Neben selbst entworfenen Kostümen sind die »Costume Logbooks« zu sehen, minutiöse Pläne, die festlegen, welche Kostüme, Unterwäsche, Mieder, Strümpfe, Schuhe, Taschen und sonstige Accessoires zu den verschiedenen Anlässen getragen werden. Man kann daran erahnen, wie viel Planung hinter den Kulissen erforderlich ist. Auch die bekannteren Werkgruppen »CUM« und »Polaroid Diaries«,1991 – 2005, sowie einige biografische Skulpturen werden gezeigt. Die Videoarbeiten »Watermusic«, 1997, und »Bells Brides«, 2004, das »Manifest auf Papier«, Neonarbeiten, sowie eine neue Gruppe großformatiger Gemälde mit dem Titel »Melody«, 2022 – 2023, ergänzen das Gesamtbild. Unter den Exponaten befinden sich insgesamt vier Neupräsentationen. Der zur Ausstellung erscheinende Katalog ist ihre zwanzigste Monografie.
»The Present of the Future« ist ein starkes Plädoyer, für die eigenen Ideale einzustehen, wie EVA & ADELE es seit Jahren vormachen, beharrlich und unbeirrbar, immer mit einem Lächeln, in alle Zukunft.
EVA & ADELE
THE PRESENT OF THE FUTURE
23.06.-08.10.23
OK Linz
www.ooekultur.at