Die monumentalen Arbeiten von Claudia Rogge demonstrieren einen Quantensprung innerhalb der Kulturgeschichte. Ihren Anlauf nimmt sie zum einen im Alten Europa, sinnfällig vertreten durch die Meister der Renaissance, und übersetzt es ins digitale Zeitalter des Neuen Europa.
Zum andern spurt sie als zentrales Thema die sozialen Grundordnungen der Menschheitsgeschichte in der wechselweisen Beziehung von Masse und Individuum auf. Nicht zuletzt arbeitet Claudia Rogge mit dem Individuum, um aus einer Vielzahl Einzelner großformatige Massenszenerien zu choreographieren. Dass sie zur Kunst über die wissenschaftliche Auseinandersetzung damit kam. Namentlich über Niklas Luhmanns „Kunst der Gesellschaft“ ist für ihr Kunstverständnis wesentlich: Es ist hochgradig reflektiert, technisch raffiniert in Szene gesetzt und zugleich im Ergebnis so geheimnis- wie kunstvoll.
RAPPORT − ORNAMENT DER MASSE UND DER GEKLONTE MENSCH
Im Jahr 2005 erschien die Serie „Rapport“, mit der Claudia Rogge ihre früheren Aktionen ins Medium der Fotografie verlagerte und zudem einen Aspekt fokussierte, der stärker auf die Ästhetik abhob als bisher: das Verhältnis von Ornament und Masse. Der Titel bezieht sich auf frz. Rapport in der Bedeutung von Zusammenhang, Gemeinsamkeit, Beziehung oder auch im Bereich der Textilindustrie auf die Musterung des Gewebes. So geht es schon im Begriff um eine inhaltliche und formale Kodierung, was sich angesichts der Fotoserie bestätigt: der anonyme Mensch als Thema und Muster. Allen Bildern gemeinsam sind die Uniformierung und eine sich geradezu offenbarende Ornamentik, die sich beim zweiten Blick als Ergebnis einer Reproduktion jeweils ein und derselben Person ergibt. Diese Anonymisierung beflügelt automatisch die Vorstellung einer Masse oder besser: Menge von Menschen, die allerdings auffallend geordnet erscheint (vgl. das eher neutralere engl. crowd). Die multiple-Idee basiert auf der mobilen Aktion „mob il 2“ von 2003, bei der Claudia Rogge einen verglasten, eigens hierfür konstruierten LKW mit 66 identischen Abgüssen eines gebückten nackten Männerkörpers durch Europa manövrierte und in verschiedenen Städten zur Schau stellte. Anders als die 5000 im LKW eher chaotisch angehäuften Puppenköpfe in der Vorgänger-Aktion „mob il 1“ 2002 wurden diese in Reih und Glied linear inszeniert. Dieser prototypische Mann taucht als Modell für die großformatige Fotografie „Rapport 170205“ wieder auf, frontal aufgenommen: auf verschränkten Armen kauernd, den Kopf nach unten gewendet, sodass der kahle Hinterkopf von der Schulter-/Armmuskelpartie umrahmt − und fünffach nebeneinander multipliziert sowie weiterführend in zweiter Reihe „auf Lücke“ dargestellt wird.

Im längsrechteckigen Format und allseitig beschnitten wird der Eindruck erweckt, als würde sich die Szenerie ins Unendliche fortsetzen. Die „Rapport“-Bilder sind alle nach diesem Schema aufgebaut, nur darf man die Vielfalt nicht unterschätzen. Zum einen wird einmal durch die Haltung der Protagonisten, einmal durch die Art und Farbe der Kleidung eine fein modulierte Wirkung erzielt − ja, eine faszinierende Schönheit im rhythmischen Spiel der Formen lässt den Betrachter schwelgen, sodass er fast vergisst, dass es um medial geklonte Menschen geht.
Die Fotografin stellt souverän, da nebenbei, die Anonymität in Frage, nicht zuletzt auch die scheinbar klare Trennung von Masse/Menge und Individuum, was in zwei späteren Serien eklatant wird: Der einzelne Mensch tritt aus der Wesenlosigkeit seiner eigenen Ornamentik hervor.
DIVIDUUM − MASKE ODER DIE TEILBARKEIT DES INDIVIDUUMS
Die Serie „Dividuum“ veröffentlichte Claudia Rogge 2007. Mit ihr verstärkt sich die theatrale Interaktion. Und damit das Rollenspiel und die Neigung zur Maskierung. Zwar erinnern zahlreiche Einstellungen bis hinein in die Gestik an die ornamentalen Strukturen früherer Serien, doch zeigen Formate wie „Multitude“ oder „Camouflage“ genauso wie das „Eurydice“-Ensemble deutliche Abweichungen vom System, mehr noch: Sie schüren Zweifel an der Systematisierbarkeit der Menge, geschweige denn der Masse. Die Zwangsjacken ähnliche Verstrickung durch kreuz und quer verlaufende, nicht enden wollende Kleiderärmel in „Multitude I“ ist von erschreckender Schönheit: schön, weil das „Muster“ eben unregelmäßig ist und zugleich perfekt inszeniert. Was sich in „Rapport“ angedeutet hat, ist hier eklatant. Das Wort „multitude“ zielt auf die Menge als Vielheit von Einzelnen, die gemeinsam agieren, im Gegensatz zur Masse, die jenes Beziehungsgeflecht nicht erkennen lässt − die teilweise auch da geklonten Doppelfiguren fallen kaum noch auf. Das Zauberwort ist hier das „Netzwerk“, das heute in allen gesellschaftlichen Bereichen relevant ist. Claudia Rogge setzt diese Idee bildlich um, sowohl sichtbar als auch indirekt − neben den konkreten Ärmellinien nimmt der Betrachter, möglicherweise unbewusst, die nicht sichtbaren Blicklinien der meist abgewandten Gesichter wahr, die eine Tiefenvernetzung erlauben, welche eigentlich von den sich als ein großes Laken generierenden weißen Hemden negiert wird. Diese Blicklinien verlaufen diffus aus dem Bild, ins Bild hinein und aus dem Schatten auch auf den Betrachter zu; aber nur ein einziges Auge nimmt ihn gefangen: im oberen Drittel und links von der Mitte bemerkt er ein weit geöffnetes Auge einer Frau, das ihn unmittelbar und deutlich fixiert. Erst einmal entdeckt, sind wir keine neutralen Betrachter mehr, sondern werden ins Netz hineingezogen.
EVER AFTER − DANTES JENSEITSBEREICHE
Beim Sprung ins Jahr 2011 wird die weitere Entwicklung zum Theatralischen unter verstärkter Einbeziehung neuer Medien deutlich. In der Tradition lebender Bilder − die im 18. und frühen 19. Jahrhundert Konjunktur hatten − lässt sich Claudia Rogge von literarischen Szenen inspirieren: In der Serie „Ever After“ ist es Dantes „Göttliche Komödie“, die sich mit den Jenseitsbereichen des menschlichen Daseins befasst. Wie sich die einstigen Regisseure der lebenden Bilder von der Malerei inspirieren ließen, um (in der Regel) Laiendarsteller in Pose zu bringen, arbeitet auch Claudia Rogge gerne mit Amateuren, die sie allerdings in unzähligen Einzelbildern fotografiert und wie eine Filmregisseurin in Handlungssituationen zusammenführt, mithilfe der digitalen Bildbearbeitung. Dantes „Inferno“, „Purgatorio“ und „Paradiso“ sind dabei nur Auslöser, nicht jedoch inhaltliche Vorgaben. Es geht ihr ausdrücklich um die „immerwährende Dichotomie von Gut und Böse, von Schönheit und Hässlichkeit, von Individuum und Masse, von Ordnung und Chaos, von Himmel und Hölle, − von Endlichkeit und Unendlichkeit“. Für die rund 40.000 Einzelbilder brauchte es eine eigene Choreographie bzw. ein Storyboard, eine spezielle Requisite (von Kerzenleuchtern, Instrumenten bis hin zu Schlangen, Schweineblut, Fell und Federn), zahlreiche Mitarbeiter für die Bildbearbeitung.
Wie schon in der Arbeit „Orpheus und Eurydice“ geht es der Fotografin nicht um eine Illustration der Vorlage, sondern um den omnipräsenten Diskurs um Masse und Individuum, wenn auch einmal mehr die Singugularität über die Anonymität obsiegt. „Ever After“, auf immer und ewig, kann als Fluch ewiger Verdammnis genauso gesehen werden wie als leidenschaftlicher Liebesschwur. Das erklärt womöglich die auffallende Intensität und Zuneigung für die teilweise doch recht schaurigen Bilder. Als märchenhafte Schlussformel à la „Und wenn sie nicht gestorben sind…“ verweist „Ever After“ auch auf die pure weltliche Fiktion, die auf Realszenen beruht, fernab von Dantes Reise durch die jenseitige Welt. Die Lichtdramaturgie begleitet zwar die apokalyptischen wie die Erlösungsbilder, als ginge es tatsächlich um die Illustration des literarischen und mehr noch des religiösen Textes. Wie auch immer, Claudia Rogge folgt in erster Linie der kreativen Neugier, der Lust an der digitalen Collage und dem künstlerischen Experiment. Neu ist in dieser annähernd pyramidal durchkomponierten Serie die Nacktheit der dargestellten Personen und die Entdeckung des Himmels, der als Bedeutungsträger ganz neue Dimensionen eröffnet.
LOST IN PARADISE − VIRTUAL BAROCK
Von barocken Deckengemälden und Vanitasstillleben inspiriert, schuf Claudia Rogge 2012 die Serie „Lost in Paradise“, die erneut alle Register zieht und bestehende Elemente vergangener Serien aufgreift und weiterentwickelt: der Dualismus Masse/Individuum, wie er sich im Prozess des geklonten Bildes ergibt, die theatralische Sendung, die Nacktheit sowie die filmreif gedachte Inszenierung. Die monumentalen Fotos ergeben eine Summe ihrer Teile − es ist nicht notwendig, mehr hineinzuinterpretieren, um sie genießen zu können. Verglichen mit der „Ever After“-Serie sind die Bilder nun völlig in luftige Höhen enthoben. Die Deckenmalerei mit anderen Mitteln wird derselben Lust folgen wie die hochbarocken Vorbilder, die sich im Prinzip mit einer virtuellen Realität ante rem befassten: perspektivische Sinnestäuschungen waren genauso beliebt wie die Überschreitung der (damals bekannten) Gattungen, insbesondere im Blick auf das Gesamtkunstwerk aus Architektur, Bildhauerei und Malerei. Mit hochkomplexen Programmen erschafft sich die Künstlerin eine virtuelle barocke Welt, die sich der Realität entzieht: Die Himmel sind Pixelkonglomerate aus zahllosen Studien, die römisch anmutende Architektur setzt sich zusammen aus duplizierten Versatzstücken aus der Säulenhalle des ehemaligen Amtsgerichts in Düsseldorf, und das Personal schöpft aus einem Pool tausender Aufnahmen einzelner und reproduzierter Figuren. In einem langen Entstehungsprozess nehmen die Einzelbilder Form an, streng nach einem vorab entwickelten Storyboard, das die Lichtregie genauso festlegt wie die Posen der Models und die Requisiten. Die Künstlerin hat in der Regel das Endprodukt schon vor Augen, lässt den Protagonisten jedoch auch Freiraum, sich in ihrer Gestik und Mimik einzubringen. Bei aller Gruppendynamik lebt die letztlich collagierte Serie von den unscheinbaren Interventionen einzelner Selbstdarsteller, die das Gesamtbild eben nicht einer bloßen Vermassung anheimgeben, sondern − wie in den frühen Serien − als inszenierte Verschmelzung von Einzelposen erscheinen lasst.