Passion, was sonst…was für eine Frage?

Ein Exkurs zu Denis Diderot – Ein Lob des freien Denkens

Schlägt man ein ety­mo­lo­gi­sches Lexi­kon auf, kommt man auf sehr affekt­ge­la­de­ne Syn­ony­me: die Bedeu­tung des Wor­tes »Pas­si­on« hat stark mit Lei­den, Erdul­den, Krank­heit, Emp­find­sam­keit zu tun und lei­tet sich vom Ita­lie­ni­schen pati ab. Aber es bedeu­tet auch: etwas Neu­es her­vor­brin­gen, Leben schen­ken, was mit den Lei­den (patio) der Geburt zusam­men­hängt, aber auch mit tei­len, zer­le­gen, tren­nen. Wir ken­nen den Begriff der Pas­si­on vor allem im christ­lich-reli­giö­sen Kon­text, von der Pas­si­on Chris­ti, also sei­ner Lei­dens­ge­schich­te, in einem ande­ren Sin­ne aber auch als Lei­den­schaft, als star­ke Nei­gung. Er gehört somit zur Syn­ony­men­grup­pe der Wor­te für Dyna­mik, Eifer, Ener­gie, hef­ti­ge Lei­den­schaft, Tat­kraft, und Verve.

Mit letz­te­rem beschäf­tig­te sich, wohl bestimmt durch sein eige­nes Tem­pe­ra­ment, der gro­ße Geist und Weg­be­rei­ter der Auf­klä­rung, Denis Dide­rot. Sei­ne Ver­diens­te um die Her­aus­ga­be der Ency­clo­pé­die, eines Stan­dard­wer­kes der Ver­samm­lung des gesam­ten Wis­sens sei­ner Zeit, sei­ner bahn­bre­chen­den Visi­on im Sin­ne der heu­ti­gen WIKIPEDIA, bei der er die bes­ten Köp­fe sei­ner Zeit zu Bei­trä­gen ansporn­te und eine gigan­ti­sche Wir­kung auf die Ver­brei­tung des Zeit­geis­tes der Auf­klä­rung vor allem in Frank­reich aber auch dem übri­gen Euro­pa, das stark von der Zen­sur beein­träch­tigt war, nach sich zog. Das Men­schen­bild von Dide­rot ist vor allem durch Lei­den­schaf­ten geprägt. Und auch die­ser Eifer wur­de oft genug durch Zen­sur beschränkt oder mit dem Gefäng­nis bedroht. In den Pen­sées phi­lo­so­phi­ques, wel­ches sozu­sa­gen als sein ideo­lo­gi­sches Mani­fest gilt, heißt es: »Man dekla­miert end­los gegen die Lei­den­schaf­ten; man rech­net ihnen alle Schmer­zen des Men­schen an und ver­gisst, dass sie auch die Quel­len aller sei­ner Freu­den sind. (…) Man wür­de mei­nen, die Ver­nunft zu belei­di­gen, wenn man ein Wort zuguns­ten ihrer Riva­len sagen wür­de. Doch nur die Lei­den­schaf­ten, und zwar die gro­ßen Lei­den­schaf­ten, kön­nen die See­le zu gro­ßen Din­gen erhe­ben. Ohne sie gibt es nichts Erha­be­nes, weder in den Sit­ten noch in den Wer­ken«. Die­se Lei­den­schaf­ten ver­stör­ten aber auch vie­le sei­ner Zeit­ge­nos­sen und vor allem das Welt­bild des Anci­en Régime, das als die Herr­schafts­form der Bour­bo­nen, d.h. vom Abso­lu­tis­mus, von der Mit­te des 17. Jahr­hun­derts bis zur fran­zö­si­schen Revo­lu­ti­on geprägt war, mit sei­nem mar­kan­tes­ten Ver­tre­ter Lud­wig XIV.

Die­se Lei­den­schaf­ten waren uner­wünscht, bei den Tra­di­tio­na­lis­ten, denn sie ver­ur­sa­chen Unord­nung. Doch Unord­nung bedeu­tet auch Bewe­gung, vor allem in den Affek­ten, die zu beherr­schen gute Sit­te war. Aber sie ber­gen auch eine gro­ße Gefahr, die Dide­rot sehr wohl erkann­te: denn sie schlie­ßen all­zu oft etwas ab, was vor­her noch unbe­stimmt, vage, dif­fus war, wie etwa eine gera­de begon­ne­ne Lie­bes­be­zie­hung, die, wenn sie in der klas­si­schen Form der Ehe sank­tio­niert wird, mit der Zeit ver­ebbt, ver­flacht. Und Dide­rot spricht auch hier aus Erfah­rung: »Gro­ße Lei­den­schaf­ten ver­nich­ten die Phan­ta­sien, die alle aus Leicht­sinn und Lan­ge­wei­le ent­ste­hen.« Der am 5. Okto­ber 1713 in Lang­res (Cham­pa­gne) gebo­re­ne Dide­rot stammt aus einer alt­ein­ge­ses­se­nen aber beschei­de­nen Hand­wer­ker­fa­mi­lie. Katho­lisch erzo­gen, ten­diert er zunächst zu einer kle­ri­ka­len Lauf­bahn und beab­sich­tigt, Pries­ter zu wer­den. Es zieht ihn aber bereits als 15-Jäh­ri­gen nach Paris, stu­diert am Col­lè­ge d’Harcourt und am jesui­ti­schen Col­lè­ge Lou­is-le-Grand, um es mit einem Stu­di­um an der phi­lo­so­phi­schen Fakul­tät fort­zu­set­zen; er belegt dort die Fächer Logik und Phy­sik. Danach folgt ein drei­jäh­ri­ges Theo­lo­gie-Stu­di­um an der Sor­bon­ne, ohne Abschluss. Er schlägt sich schließ­lich als Bohé­mi­en durchs Leben, mit nicht ver­sie­gen­dem Wis­sens­drang und Neu­gier auf Per­sön­lich­kei­ten, wel­che die­sen neu­en Zeit­geist der Auf­klä­rung ver­kör­pern, mit zahl­rei­chen Café- und Opern­be­su­chen. In die­ser Zeit ent­wi­ckelt sich 1742 auch eine Freund­schaft mit Jean-Jaques Rous­se­au, die jedoch nur fünf­zehn Jah­re hält und dann im Streit in Brü­che geht. Vor allem fühlt er sich ange­zo­gen vom Zir­kel der »phi­lo­so­phes«, die Keim­zel­le der Revo­lu­ti­on und ist sehr glück­lich dabei, sich von den neu­es­ten Strö­mun­gen der Zeit inspi­rie­ren zu las­sen. Er lernt unmit­tel­bar dar­auf auch die spä­te­ren Mit­her­aus­ge­ber der Ency­clo­pé­die, Jean Bap­tis­te le Rond d’Alembert ken­nen, einen ange­se­he­nen Mathe­ma­ti­ker, aber auch Fried­rich Mel­chi­or Grimm aus Regens­burg, der nicht nur als Diplo­mat son­dern auch als Lite­rat in Erschei­nung trat. Er kor­re­spon­diert mit Vol­taire, einer wei­te­ren schil­lern­den Gali­ons­fi­gur der Auf­klä­rung, der sich ger­ne in höfi­schen Krei­sen bewegt. Er debat­tiert laut­stark und hef­tig mit und wird dadurch auf­fäl­lig, obser­viert und poli­zei­be­kannt. Man hält ihn für einen »außer­or­dent­lich gefähr­li­chen Jun­gen«, unter­sucht sogar sei­ne Woh­nung nach Manuskripten.

Aber es kommt so, wie es kom­men muss­te: sei­ne Lei­den­schaft treibt ihn schließ­lich auch dazu, Frau­en­her­zen zu erobern und so ver­liebt er sich sehr spon­tan in eine arme Weiß­nä­he­rin und ehe­licht im Alter von knapp drei­ßig Jah­ren gegen den Wil­len sei­nes Vaters sei­nen »schö­nen Engel«, der ihm zufäl­lig auf der Stra­ße begeg­net war und mit der er, wie sich spä­ter her­aus­stel­len wird, eine wenig glück­li­che Ehe führt. Dide­rot ist bekannt für sei­ne zahl­rei­chen Sei­ten­sprün­ge, die ihn anzu­spor­nen schei­nen, noch mehr Erfah­rung im Bereich des Zwi­schen­mensch­li­chen zu sam­meln, aber auch in der Gesamt­sicht der Din­ge, wel­che die­ses Uni­ver­sum nicht nur len­ken, son­dern auch beherr­schen, obwohl er trotz­dem den Wert der Fami­lie hoch ein­schätzt und eine Sehn­sucht nach einem kon­ven­tio­nel­len, tra­di­tio­nel­len, bür­ger­li­chen Leben im Her­zen trägt, Din­ge, die mit der Lebens­pra­xis eines rei­fen­den Genies unver­ein­bar zu sein scheinen.

Wenn es bei ihm ein Cre­do in all sei­nem Schaf­fen gibt, dann ist es geprägt von Lei­den­schaf­ten. So bedau­ert er in einem Brief an einen Freund, Frau­en­zim­mer immer zu sehr geliebt zu haben, und bekennt sich zu sei­nen Lei­den­schaf­ten, von denen er sagt, sie lie­ßen »sich nicht bezwin­gen«. Das, was er anstrebt, sei es bloß fik­tiv in Gedan­ken, sei es in rea­len Begeg­nun­gen, die ihm der Zufall beschert, sind Momen­te des Glücks, die man tat­säch­lich nicht bezwin­gen kann. Sie pas­sie­ren. J. Borek, der eine Dide­rot­bio­gra­phie ver­fass­te, greift eine dafür typi­sche Pas­sa­ge aus sei­nen ver­streu­ten Bemer­kun­gen zu die­sem The­ma auf: »Ich über­las­se mei­nen Geist sei­ner gan­zen Leicht­fer­tig­keit; er mag der erst­bes­ten Idee, die sich ein­stellt, sei sie klug oder när­risch, fol­gen, wie unse­re locke­ren Jüng­lin­ge in der Alleé de Foy einer Kur­ti­sa­ne mit kes­ser Mine, lachen­dem Gesicht, locken­den Bli­cken und stup­si­ger Nase nach­stei­gen, die­se wie­der ver­las­sen, um einer ande­ren zu fol­gen, mit jeder anbän­deln und an kei­ne sich bin­den«. »Mei­ne Gedan­ken sind mei­ne Dir­nen« schreibt Dide­rot – und er macht reich­li­chen Gebrauch von deren Gunst wie auch von aller­lei Ideen und Inspi­ra­tio­nen, die ihm wie Schmet­ter­lin­ge zuzu­flie­gen schei­nen. Auf revo­lu­tio­nä­re Art denkt Dide­rot die Frei­heit der Gedan­ken neu und defi­niert sie als im Grun­de unfrei, Scho­pen­hau­er vor­weg­neh­mend, indem er dar­auf beharrt, dass wir nicht deren urei­gens­te Schöp­fer sind und der Geist nicht das Zen­trum des­sen ist, was unser »Moi« aus­macht: »Die Gedan­ken kom­men und gehen nach einem sozia­len Ritu­al, sie wer­den nicht im unbe­rühr­ten Geist eines Indi­vi­du­ums pro­du­ziert, das die Welt beob­ach­tet… Im Übri­gen erscheint der Geist des beson­nens­ten Phi­lo­so­phen nie­mals als ‚Herr‘ über ‚sei­ne‘ Gedan­ken. Per defi­ni­tio­nem gehö­ren ihm ‚sei­ne Huren‘ nicht. Er ist nicht deren Zen­trum – weder gene­tisch, refle­xiv oder kon­struk­tiv – ein frem­des Ich also, das als sol­ches das Wesen des Men­schen ausmacht.«

Dide­rots Wis­sens­durst auf allen Gebie­ten des Geis­tes folgt, wie Domi­ni­que Lecourt meint, einem „wil­den“ Begriff des Inter­es­ses, »einem Begriff, der kei­ne Ver­mitt­lung impli­ziert, der im Gegen­teil den abso­lu­ten Wert der Unmit­tel­bar­keit gegen die Heu­che­lei der ers­te­ren behaup­tet«. Sie meint auch, anspie­lend auf des­sen Stan­dard­werk »Über­wa­chen und Stra­fen«, Fou­cault hät­te damit »voll­kom­men Recht, wenn er in einer Anmer­kung die­se Denk­be­we­gung Dide­rots in die­sem Punkt mit der­je­ni­gen von Sade ellip­tisch in Ver­bin­dung bringt.« Denn was die­ses »wil­de Den­ken«, das ledig­lich von sei­nem spe­zi­fi­schen ‚Inter­es­se‘ gelei­tet wird, aus­macht, ist vor allem eines: sowohl die Über­zeu­gun­gen eines gefes­tig­ten Glau­bens mit sei­ner eige­nen Welt­an­schau­ung des Frei­geis­tes über Bord zu wer­fen, als auch damit zugleich den Ratio­na­lis­mus, wie sie vom wohl bekann­tes­ten Pro­po­nen­ten der neu­zeit­li­chen Phi­lo­so­phie, René Des­car­tes, mit der Spal­tung in res cogi­tans und res exten­sa, ver­kör­pert wird. In „Rame­aus Nef­fe“, einem der Schlüs­sel­ro­ma­ne Dide­rots, bringt er es auf den Punkt, denn er mischt hier die Kar­ten neu und bringt die Unver­nunft im Her­zen der Ver­nunft als gleich­be­rech­tig­ten Gegen­pol ins Spiel. Noch prä­zi­ser for­mu­liert: »Die Unver­nunft ist das, was dem Sein am unmit­tel­bars­ten nahe­steht, am stärks­ten in ihm ver­wur­zelt ist.

Wir wis­sen den­noch sehr wenig über Dide­rot, fast gar nicht, so wie er wirk­lich war, wenn wir ihn nur von sei­nen Schrif­ten ken­nen. Selbst das Bild, das wir von ihm vor Augen haben und heu­te im Lou­vre hängt, und in fast jedem Schul­buch abge­bil­det, ist ein Fake, wie sich erst kürz­lich her­aus­ge­stellt hat. Das Bild von Fra­go­nard zeigt jemand ande­ren oder ist vom Künst­ler frei erfun­den, wie Le Figa­ro in einer Sen­sa­ti­ons­mel­dung vom 21.11.2012 berich­te­te. Selbst sei­ne Asche ist irgend­wo ver­streut. Was von ihm bleibt, ist die Erkennt­nis, dass der Geist ver­führ­bar ist und weder ein erfin­de­ri­sches Den­ken noch eine stren­ge Ethik bestehen kann, ohne sich dem Risi­ko der Zügel­lo­sig­keit aus­zu­set­zen, was Pas­si­on vor­aus­setzt. [zum Lang­text]

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geschrieben von

1954 in Wien geboren, ist Autor und Kunstkritiker. Er studierte Philosophie an der Universität Wien und promovierte 1996 in Philosophie im Hauptfach mit der 600 Seiten Dissertation „Diskontinuität und Seinserfahrung“ bei Prof. Kampits, Prof. Mader und Doz. Vetter. Daneben intensives Studium der Kunstgeschichte mit dem Schwerpunkt italienischer Renaisssance bei den Kunsthistorikern Prof. Rosenauer und Prof. Fillitz sowie Grafik bei Prof. Koschatzky. Interesse an griechischer Mythologie, sowie speziellen Bereichen der Kunstgeschichte, Renaissance- und Barockmalerei, sowie profaner Wandmalerei in Mittelmeerraum- und Süditalien, aber auch zeitgenössischer Kunst.

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