Der Wissenschaft wird oft vorgeworfen, sie lebe in einem Elfenbeinturm – fernab der Realität der Gesellschaft und deren Probleme. So kommt es nicht von ungefähr, dass es an durchsetzbaren Lösungsvorschlägen fehlt, um komplexe und gegenwärtige Krisen wie etwa die Klimakrise zu bewältigen. Die Naturwissenschaft hat es trotzt aller Warnungen und Bemühungen in den vergangenen Jahrzehnten nicht geschafft, die Menschen zum Umdenken zu bewegen. Nicht zuletzt hat diese Krise deutlich aufgezeigt, dass die Wissenschaft allein nicht in der Lage ist, neue Formen des Zusammenlebens und Wirtschaftens in die reale Praxis zu überführen. Und es stellt sich die Frage, ob es denn überhaupt Aufgabe der Forschung sein soll, dies zu tun.
Um neues Wissen und innovative Lösungen zu entwickeln, braucht es unterschiedliche Meinungen, Perspektiven und Expertisen. Bei einer rein wissenschaftlich-theoretischen Auseinandersetzung mit sozial-ökologischen Problemstellungen besteht das Risiko, neue Perspektiven und Ansätze aus der Gesellschaft und Praxis auszuschließen. Wissenschaftler:innen haben erkannt, dass nicht nur die Zusammenarbeit zwischen den Disziplinen (Interdisziplinarität), sondern auch der Einbezug von nicht-akademischen Akteur:innen (Transdisziplinarität) essenziell ist, um gesellschaftliche Probleme zu bewältigen und einen Wandel zu begleiten. Diese Art von Forschung wird von einem praktischen Bedarf angestoßen und meist als Fallstudie durchgeführt. Dabei werden verschiedene Perspektiven aus der Wissenschaft und der Praxis integriert, um neues Wissen zu produzieren und die Gesellschaft zu gestalten. Im transdisziplinären Forschungsansatz kommt es, wie bei einem interdisziplinären Ansatz, zur Verschmelzung von Disziplinen anstatt zu einer Vermischung, wie es etwa bei einem multidisziplinären Ansatz geschieht. Methoden und Perspektiven der bestehenden Disziplin werden erweitert.
Transdisziplinarität bezeichnet laut Matthias Bergmann et al. die Öffnung der Wissenschaft hin zu a) lebensweltlichen Problemlagen, b) der Integration außerwissenschaftlicher Akteurinnen und Akteure und c) der explizit normativen Bearbeitung der Themen. Der Begriff der Transdisziplinarität wurde ursprünglich von Jean Piaget in den 1970er-Jahren eingeführt. Er bezeichnet als Transdisziplinarität nicht nur die Interaktion und Wechselwirkung zwischen den Forschungsprojekten, sondern die Einbettung der Disziplinen in einem Gesamtkonzept. Bis Anfang der 1990er-Jahre wurde der Begriff jedoch kaum verwendet.
ZUSAMMENARBEIT VON WISSENSCHAFT UND ZIVILGESELLSCHAFT
Ein wichtiger Aspekt der transdisziplinären Methode ist die Einbeziehung nicht-akademischer Akteure. Diese können die Zivilgesellschaft, Interessenverbände oder politische Akteure sein. Jede Person verfügt über wertvolles Wissen, welches einen Beitrag zu einem zukunftsfähigen Zusammenleben und Wirtschaften leisten kann. Die Expertise alleine sollte nicht der bestimmende Faktor sein, wenn es darum geht, unsere Gesellschaft und Wirtschaft zu gestalten. Forscher:innen, Praktiker:innen und die Zivilgesellschaft arbeiten zusammen, um neues Wissen zu produzieren, zu gestalten und Veränderungsprozesse zu initiieren. Bei dieser Art der Forschung werden nicht nur disziplinäre Grenzen überschritten, sondern auch das traditionelle Denken in der Wissenschaft wird in Frage gestellt.
Partizipation, die Teilhabe und Teilnahme an Projektarbeit, Forschung und gesellschaftlichen Gestaltungsprozessen spielen für das Verständnis der transdisziplinären Forschung eine tragende Rolle. Partizipation ist die Grundlage für Co-Design, Co-Creation und Co-Dissemination. Die partizipative Entwicklung, Ausgestaltung und Verwirklichung von Forschungsprojekten erfolgt etwa durch die Befragung regionaler Akteur:innen, die gemeinsame Arbeit an Forschungsideen und die Festlegung des Forschungsprogrammes (Co-Design). Im Sinne der Co-Produktion werden nicht wissenschaftliches und wissenschaftliches Wissen in den Erkenntnisgewinn integriert. Transdisziplinäre Projekte sollten sowohl Impulse für Diskurse und Innovationen im Praxisfeld als auch in der Wissenschaft sein (Co-Dissemination). Dabei haben Wissenschaftler:innen eine gestaltende Rolle. Sie sind laut Richard Beecroft und Oliver Parodi sowohl Teil des Forschungsprozesses als auch Gegenstand der Forschung.
In den vergangenen Jahren hat sich der transdisziplinäre Forschungsmodus in der Forschungsgemeinschaft insbesondere im Bereich der Nachhaltigkeitstransformation etabliert. Die Aktionsforschung ist dabei eine Methode der sozialen Veränderung und impliziert einen transdisziplinären Forschungsmodus. Der Sozialpsychologe Kurt Lewin führte das Konzept der Aktionsforschung bereits in den 1940er-Jahren ein. Es handelt sich um eine experimentelle Forschung, die mit Teilnehmer:innen an einem konkreten Problem und einer Lösung arbeitet. Die Forschenden arbeiten reflexiv, iterativ und empirisch mit nicht wissenschaftlichen Akteur:innen zusammen. Die Aktionsforschung zielt darauf ab, Probleme der realen Welt anzugehen, um gesellschaftlich transformativ zu sein.
EIN REALLABOR FÜR DIE NACHHALTIGE TRANSFORMATION
Ein konkretes Beispiel für ein transformatives und transdisziplinäres Projekt ist das Projekt »Tiny FOP MOB – Ein rollendes Reallabor aus Holz und Hanf auf dem Weg durch den Vinschgau«. Das erste Reallabor in Südtirol stammt aus einer Idee und Projektleitung der Forscherinnen Ingrid Kofler und Daria Habicher. Ziel eines Reallabores ist es, Transformationsprozesse anzustoßen und wissenschaftliche sowie gesellschaftliche Lernprozesse zu begleiten. Dabei versuchen die Forscher:innen, Ursachen und Wirkungen besser zu verstehen, Probleme frühzeitig zu erkennen und gemeinsam mit Betroffenen vor Ort, Maßnahmen und nachhaltige Lösungen zu entwickeln. Die geläufigste Begriffserläuterung des »Reallabores« ist jene von Uwe Schneidewind: Es geht um »einen gesellschaftlichen Kontext, in dem Forscherinnen und Forscher Interventionen im Sinne von Realexperimenten durchführen, um über soziale Dynamiken und Prozesse zu lernen«.


Im Rahmen des Projektes Tiny FOP MOB haben Ingenieur:innen, Soziolog:innen, Politolog:innen, Wirtschaftswissenschaftler:innen (Eurac Research und Freie Universität Bozen) und die zwei Handwerksbetriebe Habicher Holzbau GmbH und Schönthaler Bausteinwerk GmbH zusammengearbeitet. Je nach Themenschwerpunkt setzen sich die Akteure in einem Reallabor unterschiedlich zusammen. Das EFRE-finanzierte Tiny FOP MOB wurde aus natürlichen Materialien, nämlich aus Holz, Hanf und Kalk gebaut. Es ist Bau‑, Bildungs- und Forschungsprojekt in einem und soll Menschen zum Nachdenken über Nachhaltigkeit anspornen und bereits ein konkretes, greifbares Beispiel dafür liefern. Im Zeitraum Juli 2021 bis Juni 2022 war das Reallabor in fünf verschiedenen Gemeinden des Vinschgaus, einem Tal der Autonomen Provinz Bozen – Südtirol unterwegs. Die Forscher:innen führten im Reallabor Interventionen oder sogenannte Nachhaltigkeitsexperimente durch, um Denk- und Veränderungsprozesse anzustoßen. Dazu zählen partizipative Workshops, Kreativworkshops, öffentliche Veranstaltungen, Eye-Tracking-Experimente und Unternehmenstalks. Die Unternehmen und die Zivilbevölkerung setzten sich mit Themen der nachhaltigen Entwicklung, insbesondere mit zukunftsorientiertem Bauen und Wohnen auseinander. Die Kooperation zwischen lokaler Wirtschaft, Unternehmertum, Bevölkerung und Forschung sollte dabei gefördert werden. Reallabore haben immer einen Lern- bzw. Bildungsbezug. Das Reallabor selbst ist zugleich ein Lernort und ein gesellschaftlicher Lernprozess. Das Projekt hatte zum Ziel, zu untersuchen, welche Rolle den Unternehmen bei der Gestaltung einer nachhaltigeren Gesellschaft und Wirtschaft zukommt, wie Transformationsprozesse und innovative Veränderungen angestoßen werden können und wie dadurch eine umweltfreundlichere sowie faire Gesellschaft aufgebaut werden kann.
THEATER GEGEN DEN KLIMAWANDEL
Doch nicht nur wirtschaftliche Akteur:innen können einen Beitrag in der Gestaltung eines sozialen und politischen Wandels leisten – auch Kunst und Kultur spielen eine zentrale Rolle. In den vergangenen Jahren kam es auch in Südtirol zu vermehrter Zusammenarbeit zwischen Kunst und Wissenschaft. Zwischen dem 26. März 2022 und dem 8. April 2022 wurde etwa Alexander Eisenachs »Anthropos, Tyrann (Ödipus)« unter der Regie von Carina Riedl im Theater der Vereinigten Bühnen Bozen (Südtirol, Italien) aufgeführt. Dabei entstand eine Kooperation zwischen den Vereinigten Bühnen Bozen und Eurac Research, angesiedelt an der Schnittstelle von Kunst und Wissenschaft. Politikwissenschaftler:innen, Philosoph:innen, Wirtschaftswissenschaftler:innen, Aktivist:innen, Schauspieler:innen und Künstler:innen waren an dem Projekt beteiligt. Das Stück sollte die breite Öffentlichkeit zum Klimawandel sensibilisieren und hob insbesondere die transdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Theater, Wissenschaft und Gesellschaft hervor. Das Theaterstück war zweigeteilt: fünf Schauspielerinnen spielten zunächst Auszüge aus Sophokles Tragödie. Der zweite Teil des Abends war dem Gespräch und der Interaktion mit dem Publikum vorbehalten, um einen aktiven Dialog zwischen den Wissenschaftler:innen, Aktivist:innen und der Zivilbevölkerung zur Klimakrise aufzubauen. Die fünf wissenschaftlichen Positionen wurden durch Georg Kaser (Glaziologe und Klimaforscher), Mark Zebisch (Geoökologe), Sonja Gantioler (Biologin und Raumplanerin), Silja Klepp (Humangeografin und Sozialanthropologin) und der Forschungsgruppe Care des Center for Advanced Studies mit Giulia Isetti, Daria Habicher, Linda Ghirardello, Anna Weithaler und Silvia Gigante vertreten. Das Publikum war eingeladen, Fragen zu stellen und seine Sicht der Dinge zu teilen. Eine Studie, ob diese Kooperation nun tatsächlich eine Veränderung der Gefühle in Bezug auf den Klimawandel hervorgebracht hat, wurde ebenfalls durchgeführt. Die Datenauswertung ist noch im Gange.


Um eine komplexe Krise wie jene der Klimakrise zu bewältigen, muss sich die Wissenschaft öffnen und sich neue Formen der Wissensvermittlung aneignen. Zusammen mit nicht-akademischen Akteur:innen wie Künstler:innen und Handwerker:innen kann gemeinsam an nachhaltigen Lösungen gearbeitet werden. Es braucht Orte, um gemeinsam zu experimentieren und in Dialog zu treten. Wir befinden uns in einer Zeit, in der die Gestaltung des Wandels zu einer nachhaltigeren und fairen Gesellschaft führen kann. Durch Untätigkeit hingegen steuern wir direkt auf eine Klimakatastrophe zu. Kunst und Kultur können eine Brücke zwischen der Wissenschaft und der Gesellschaft sein. Sie sind in der Lage, neue Sinne und Emotionen zu bespielen und weitere Kommunikationskanäle für die Wissenschaft zu öffnen.