Studien zum Formen empraktischen Wissens
DIE AHNUNG1 ALS KÖRPERWISSEN – TEIL 2
Im Ahnen, das auf die unmittelbare Existenz Übersteigende, ästhetisch auf das Erhabene zielt, zeigt sich, dass der Mensch einen Drang zur Transzendierung des eigenen Daseins hat, der ihn suchen lässt nach dem, was größer ist als er und was entweder nicht mehr oder noch nicht ist. Insofern ist dem menschlichen Leben grundsätzlich ein utopischer Drang eigen, der den Menschen sich nicht abfinden lässt mit dem gegebenen Sein und der ihn suchen lässt nach Mehr-als-Dasein. Ahnung geht auf den Geist. Faust sucht ahnend den Geist, dem er gleicht. Vor allem in romantischer Philosophie und Literatur ist die Suche nach dem Geist mit dem Ahnen, dem Sich-Ängstigen und Hoffen verbunden. Der »Geist« meint dabei die allgemeine Tendenz in der Latenz einer Kultur, die nur geahnt werden kann. Der Geist ist nicht die Summe der »Geister« (Bewusstseine) der Individuen, sondern der Geist ist das, die individuellen Bewusstseine Transzendierende und die Individualität Übersteigende, die Wir-Tendenz in der Ich-Existenz. Wenn wir den Geist der Zeit zu benennen versuchen, dann versuchen wir zu benennen, welches innere spontane Telos eine Kultur in sich trägt, das über die Existenz der Individuen hinaus oder sogar gegen sie existiert.
Der Geist ist also eine die Wirklichkeit transzendierende Schicht der Wirklichkeit, die tendenziell möglich ist. Das nannte Bloch »Geist der Utopie«. Im Folgenden möchte ich vier Formen des Ahnens philosophisch-existenzieller und damit zunächst immer individueller Art differenzieren: Erstens: Entzogenheits-Ahnungen, zweitens: Problem-Ahnungen, drittens: Ganzheits-Ahnungen, viertens: Ereignis-Ahnungen. Der Begriff Entzogenheits-Ahnungen meint, dass im explizit Wahrgenommenen implizit wahrgenommen wird, dass im Wahrgenommenen etwas nicht wahrgenommen wurde. In der expliziten Präsenz von etwas wird also implizit die verschleierte Existenz von etwas vernommen. Mit der Wahrnehmung von implizit Existentem in explizit Präsentem ist immer eine gewisse Diagnose verbunden. Daher spricht Hogrebe zu Recht von »diagnostischen Ahnungen«. Diagnostische Ahnungen sind oft von kurzer Lebensdauer und beziehen sich auf nicht offenkundige Zustände. Sie werden aufgehoben, indem sie zu explizitem Wissen werden oder indem sie sich als Trug erweisen. Ihre Lebensdauer muss durchaus nicht kurz sein, wenn sie sich z. B. zu Stereotypen und Vorurteilen verfestigen, die einen gewissen Trainingseffekt haben. Ahnung funktioniert aber nicht ohne Schulung, sie funktioniert umso besser, wenn man den Umgang mit ihr trainiert hat. Denn Ahnungen greifen auf Erfahrungen zurück, die man in einfache Regeln fassen kann und oft als »Bauernregeln« bezeichnet werden.
In diesem Kontext zeigt sich, dass Ahnungen auch immer eine kritische Funktion haben, insofern sie eine kritische Distanz gegenüber angebotenen Erklärungen wach halten und uns »skeptisch sein lassen, wo wir noch kein Argument für unseren Zweifel haben.« Außerdem lassen uns Ahnungen Abstand nehmen gegenüber dem Gewöhnlichen und Gewohnten. Aber Ahnungen haben nicht nur eine kritische Funktion. Sie gehören auch zur Anpassungsfähigkeit des Man. Denn mit den Ahnungen ist oft das Gerede über Alles und Nichts verbunden, die Geschwätzigkeit, die oft nur Angst verbergen soll. Jeder ahnt und spürt immer je schon voraus, was der Andere ahnt und spürt – und zwar Dieses und Jenes. Man ist auf der Hut. Vom Hören-Sagen kennt man schon, was kommt. Ahnung ist daher auch nicht von Neugier und Sensationslust zu trennen. Man weiß ja nie was kommt, möchte es aber doch schon immer wissen und zum Schluss hat man es ja auch schon immer gesagt. Tritt dann tatsächlich das Geahnte ein – egal ob positiv oder negativ – dann hat man es ja immer schon gewusst. Die neugierige Vorwegnahme wird dann zum endgültigen Vorurteil. Damit verbunden ist ein finalistischer Fehlschluss von der realisierten Ahnung auf die Vorahnung: was sich realisiert hat, wird in die Vergangenheit transformiert als das dort anwesende einzig Mögliche, obwohl es nur eine Möglichkeit unter vielen anderen war. Problem-Ahnungen sind solche, die uns trotz allen Nichtwissens Lösungen bzw. Nichtlösungen von Problemen implizit wahrnehmen lassen. Deshalb muss man unterscheiden in Problemlösungsahnungen und Nichtproblemlösungsahnungen. Wir glauben ein Problem gelöst zu haben und ahnen doch, dass die Lösung nicht richtig ist oder nicht funktioniert. In den Problemahnungen zeigt sich besonders deutlich, dass Ahnungen immer mit Ein-Fällen verbunden sind, Ahnungen sind als Ein-Fälle plötzliche Bewusstseinsschläge, weshalb Bloch zu Recht die Ahnungen im Zusammenhang mit der Genie-Ästhetik diskutiert. Es fällt einem plötzlich etwas ein, etwas wird zufällig auffällig. Mit einem Schlage wird etwas Unbestimmtes bestimmt vernommen. Der Ein-Fall der Ahnung ist zwar etwas, das mir zustößt, aber zugleich bestimmt ist von Hintergrundstimmungen und Hintergrunderinnerungen. Die Ahnung kann also selbstbestimmt erscheinen, aber sie ist in gewissem Maße immer fremdbestimmt eben durch die Geschichte meiner Hintergrundstimmungen.
Ganzheits-Ahnungen: Diese Ahnungen gehen auf ein Ganzes, das explizit in seiner Ganzheit nicht erfasst werden kann und daher sich als Grenzwissen erweist, das auf eine Totalität geht, die nur ahnbar, aber nicht vollständig rational erfassbar ist. Dieses Ahnungswissen als Ganzheitsahnungswissen, als Totalitätsdenken, war bisher der Philosophie wesentlich eigen. Wir können kein strenges Wissen vom Ding an sich, vom Absoluten haben. Aber wir können auch nicht ausschließen, dass es das Ding an sich und das Absolute gibt, bloß weil wir es nicht explizit wissen können. An dieser Grenzlinie hat die Philosophie immer einen Resonanzboden geschaffen (wesentlich mit Hilfe der Vernunft), um sich offen zu halten für das Wissen vom Nichtwissbaren. Ganzheits-Ahnungen in der Philosophie sind gestimmte Erkenntnisse des Unendlichen im Endlichen. Sie haben Aufschlusscharakter für das anscheinend nicht Aufschließbare und sie setzen nicht nur Hintergrundwissen voraus, sondern Hintergrundstimmungen, wie Heidegger und Bloch klar erkannt haben. Verbunden mit diesen Ganzheits-Ahnungen ist nicht nur das Erfassen des implizit Möglichen im explizit Wirklichen, sondern des anscheinend Unmöglichen im möglichen Wirklichen. Ganzheits-Ahnungen nehmen das als wichtiger und wirklicher, was nicht ist bzw. was noch nicht ist. In Ganzheits-Ahnungen offenbart sich dann in extremer Weise der Möglichkeitssinn jeder Form von Ahnung. Auch dieser Möglichkeitssinn hat keine erkenntnisverschließende Funktion, sondern eine erkenntnisaufschließende Funktion. Im Ahnen enthüllt sich etwas in der Verhüllung. Die Ahnung ist also nicht einfach ein Sehnen, sondern ein enthüllendes Sehnen, das sich vor sich selbst verhüllt, vor sich hindämmert, gärt und dem impliziter Sinn für das Sich-Anbahnende eigen ist.
Ganzheits-Ahnungen können übergehen in Ereignis-Ahnungen, die sich im Medium des Schweigens stiften. Ahnungen ereignen sich schweigend; schweigend erahnen wir das Ereignis. Eine ausgezeichnete Form von Entzogenheits-Ahnungen sind Ereignis-Ahnungen. Ereignis-Ahnungen sind Ahnungen, die davon künden, dass eine Seinsform sich umkehrt, dass unsere Seinsverhältnisse grundsätzlich andere werden könnten, dass ein ganz anderes Dasein möglich ist. Dies kann man individuell-existenziell auffassen, bezogen auf die Gesellschaft und bezogen auf die Natur. Ereignis-Ahnungen sind nicht mehr nur diagnostisch, sondern utopisch oder dystopisch. Sie erscheinen oft in der Metapher des Blitzes und als Wendungspunkte im Leben von Individuen und Gesellschaften. Sie zielen auf den Kairos, in dem sich die Kehre ereignet. Aber diese Vorblicke, Vorwegnahmen im Dunkel des gelebten Augenblicks müssen nicht, wie Ernst Bloch annahm, immer nur nach Vorwärts dämmern. Sie müssen nicht nur auf das kommende Licht verweisen, sondern sie können auch nach hinten dämmern. Wir kommen mit bestimmten Ahnungen nicht aus dem Dunkel heraus, sondern noch tiefer in es hinein, nämlich durch die Angst-Ahnungen versinken wir im Dunkel des Nichts. Mit Ahnungen sind also nicht nur positive Hinauf-Stimmungen, sondern auch Abstiegs- und Verlust-Stimmungen verbunden. Es sind demzufolge Angst-Ahnungen von Hoffnungs-Ahnungen zu unterscheiden. Haben wir Angst, läuft die Ahnung in das Unglück und in den Tod vor. Ahnung kann das Schrecken, der Schrecken, das Grausame sein. Haben wir Hoffnung, läuft die Ahnung in das Glück und das (Über-)Leben vor. Die Ahnung ist dann das Freudige, die Freude am Leben schlechthin.
Hoffnung zielt bekanntlich bei Bloch gnoseologisch auf das Noch-Nicht-Bewusste und ontologisch auf das Noch-Nicht-Seiende. Das Noch-Nicht-Bewusste wird uns nach Bloch durch das Ahnen gegeben, wobei er polemisch überzieht, das Ahnen vom Erinnern trennt und dadurch vernachlässigt, dass jedes Ahnen nicht nur Erinnerung ist, sondern auf Erinnerung beruht. Bloch sieht daher nicht, dass Ahnungen ansteckende Erinnerungen sind; man bemerkt etwas unbestimmt gestimmt und erinnert im Nachhinein dies unbestimmte Wissen. Ahnungen sind Erinnerungsnachklänge, die auf Erinnerungswellen beruhen. Ahnungen gründen sich also in Erinnerungen. Insofern wird hier Bloch fundamental widersprochen und seinem ideologischen Ressentiment gegen die Erinnerungen. Ahnungen sind erinnerte Vor-Stimmungen, die durch den Zufall bestätigt werden können und sich dadurch ereignen. Das kann die ahnende Sympathie sein, die Liebe wird, aber auch die ahnende Eifersucht, die den Hass erzeugt.
Das geahnte Noch-Nicht-Bewusste ist für Bloch nur die psychische Repräsentation des historisch Noch-Nicht-Gewordenen als dem Noch-Nicht-Gut-Gewordenen. Die Hoffnungs-Ahnung zielt also durch die Antizipation des Noch-Nicht-Bewussten auf das Noch-Nicht-Gut-Gewordene in der Welt und in diesem Sinne auf das Noch-Nicht-Seiende. Bloch verbindet das Ereignis-Ahnen mit dem Ahnen und Sich-Ereignen des rettenden Guten, des Heiligen, Erlösenden. Dadurch vernachlässigt er zu stark, dass die Ereignis-Ahnung auch die Ahnung des noch nicht gewordenen Bösen sein kann, das von der Angst ahnend erfasst wird. Blochs Hoffnungs-Ahnung geht optimistisch auf das Rettende in der Gefahr. Die Angst-Ahnung dagegen zielt auf den Untergang in der Gefahr. Wo Gefahr ist, ist aber eben nicht nur das Rettende auch, sondern immer auch die Möglichkeit des Untergangs in der Gefahr, aus dem es keine Rettung mehr gibt. Die Ahnung ist nicht nur positiv utopisch nach vorne aufdämmerndes Noch-Nicht, sondern die Ahnung kann ebenso negativ utopisch aufdämmerndes Überhaupt-Nichts sein. Wir ahnen nicht nur, dass aus Nicht doch etwas Gutes werden kann, sondern wir ahnen auch, dass aus Nicht Nichts werden kann, das absolut Böse, das uns verschlingen kann wie der Glaube an das absolut Gute. Philosophie als Ahnungswissen vom Ganzen und vom Ereignis ist ein Warteraum, in dem die Zukunft erwartet wird. Sie ist der Warteraum der Ankunft des Ereignisses, in dem es verdammt langweilig sein kann. Indem die Philosophie das Ereignis des ganz Anderen ahnt, macht sie das vermeintlich Unübersichtliche übersichtlich. Philosophie als ahnendes Übersichtlichkeitswissen stellt sich damit gegen das postmodern-skeptische Philosophieren, das klein und schwach denkt und in seinem Skeptizismus den Überblick verloren hat, sich in der Unübersichtlichkeit gefällt, weil sie den Willen zur Übersichtlichkeit verloren hat. Darum ist sie auch unfähig, Lebensentwürfe über den letzten Menschen hinaus zu entwerfen. Ihre Perspektive ist die der Alternativ- und Ereignislosigkeit – eine Not, die sie in ihrer Notlosigkeit selbst nicht bemerkt und sich daher mit der Rechtfertigung des Glücks der letzten Menschen begnügt.
Das Ahnen ist empraktisches Körperwissen, das sich explizit in der individuellen Neusetzung von Grenzen ausdrückt. Man hat im Erleben dieser absoluten (Selbst-)Macht kurzzeitig »den Kopf verloren«. Durch das Aussetzen von einigen Fähigkeiten und Tätigkeiten der »kleinen Vernunft« bewegt sich die Konzentration des Individuums auf der Ebene der »großen Vernunft« des Leibes. Hier sind Zustände des Wahns und der Unfähigkeit zu jeglicher Differenzierung kurzweilig anzusiedeln, was aber gleichzeitig aus sich heraus die Chance erzeugt, sich selbst ganz anders wahrzunehmen und so das Andere seiner selbst in Form von Irrsinn und eigentlicher Unvernunft innerhalb dieser außergewöhnlichen Momente zu erfahren. Diese Unvernunft aber ist notwendiger Teil der »grossen Vernunft«. Dieses Aufscheinen des scheinbar völlig Anderen ermöglicht die in der Reflektion noch mögliche Ahnung dieser Selbst-Überschreitung und so auch die Neusetzung der Grenzen. So könnte man davon sprechen, dass sich in außergewöhnlichen irrationalen Momenten, die sich von unserer Alltäglichkeit abheben und vielleicht innerhalb einer ganz anderen Zeit stattfinden, erst neuer Sinn stiftet. Die über die Große Sehnsucht, welche hier als die tiefste formgebende empraktische Macht des Einzelnen an sich Selbst beschrieben wird, erziehbaren Kleinen Sehnsüchte werden selbstbestimmt als Werkzeuge, als Mittel der übergreifenden Perspektive des Lebenskunstwerkes des Einzelnen gebraucht. So besteht das Wissen der Sehnsucht als empraktische Wissensform, differenziert in Große und Kleine Sehnsucht, nicht willkürlich, sondern am Leibe erzogen, per Askese gezüchtet und stilisiert.