„Etwas Neues aus den Trümmern der Utopien aufbauen.“
Anna Ehrensteins Tools for Conviviality (seit 2018) ist eine multidisziplinäre Serie, die in Dakar, Senegal, in Zusammenarbeit mit Saliou Ba, Donkafele (Mandé Mory Bah und Thibault Houssou), Nyamwathi Gichau, Lydia Likibi und Awa Seck entstanden ist. Die Serie besteht aus einem digitalen Video, Fotografien und Textilskulpturen und porträtiert die Bewegungen von Ehrenstein und ihren Kollaborateur*innen in den urbanen Räumen von Dakar. Wie Ehrensteins Migrationserfahrung zwischen Deutschland und Albanien ist auch das Leben des Teams von der Migration in den und aus dem Senegal geprägt. Das Konzept ihrer Zusammenarbeit geht auf das Buch Tools for Conviviality (1973, deutsch: Selbstbegrenzung. Eine politische Kritik der Technik) des Sozialkritikers Ivan Illich zurück, passt aber dessen Kritik an der westlichen Industrialisierung an die technokratischen und neokolonialen Bedingungen an, die die digitale Gegenwart prägen. Tools for Conviviality wurde erstmals 2021 im C/O Berlin anlässlich des C/O Berlin Talent Award ausgestellt. Während die Arbeit ins Francisco Carolinum in Linz reiste, habe ich mit Anna Ehrenstein per Videochat zwischen Berlin und Tirana gesprochen, um mehr über ihre Ausstellung zu erfahren.
Wie hast du die Serie seit der Ausstellung Tools for Conviviality in Berlin für deine Ausstellung in Linz weiterentwickelt?
ANNA EHRENSTEIN: Die Ausstellung in Linz wird eine ortsspezifische Installation sein. Ich arbeite schon seit drei Jahren an Tools for Conviviality, es gibt also ein großes Repertoire an Dingen, die ich zeigen kann. Wir bauen gerade eine geodätische Kuppel für Linz, die ich superschön finde. Buckminster Fullers geodätische Kuppel hat die Fortschrittskritik der Nachkriegszeit geprägt und wurde zum Klassiker der Hippie-Architektur. Das Museum in Linz hat jedoch eine ganz andere Architektur – es ist buchstäblich ein Schloss und ist sehr stark von der Ästhetik der Aufklärung geprägt. Was mache ich in einem Raum, der die Aufklärung verkündet, mit einem Projekt, das versucht, alles zu dekonstruieren, was die Aufklärung als Fortschritt bezeichnete? Deswegen verwende ich hier Materialtypen wie die geodätische Kuppel. Im Inneren wird ein Video projiziert, dazu kommen Textilskulpturen von Sunny Pfalzer. Diese Art von architektonischen Gesprächen führt zu unterschiedlichen Arten des Umgangs mit dem Raum, indem sie Fragen aufwerfen.
Ich bin fasziniert von den Überresten utopischer Gegenstände wie der geodätischen Kuppel. Wenn man ihnen heute begegnet, sind sie so unheimlich, weil sie aus der Zeit gefallen sind. Und doch sind diese Formen des utopischen Denkens, wie sie Ivan Illich in seinem Buch Tools for Conviviality beschrieben hat, ein wichtiger Bestandteil deines Projekts.
ANNA EHRENSTEIN: Die 1960er- und 1970er-Jahre sind eine Zeit, auf die ich mich immer wieder beziehe. Damals hatten die Menschen ein so klares Gefühl für Utopien, und viele Kolonien erlangten ihre Unabhängigkeit. Aber gleichzeitig begann die imperiale Kriegsmaschinerie der USA neue Formen des Kolonialismus zu entwickeln, die wir bis heute nicht vollständig verstehen. Es waren also wirklich prägende Momente für die Gegenwart. Es ist auch sehr interessant, wenn man es mit den Utopien vergleicht, die unsere Generation geprägt haben, wie die Utopie des Internet, als ein einfaches Werkzeug, das alle miteinander verbindet. Wenn wir auf die 1970er-Jahre zurückblicken, hatten die Menschen noch sehr konkrete Utopien. Die haben wir heute nicht mehr, und auch die Utopie des Internet haben wir verloren. Ich versuche also, die Trümmer dieser Utopien zu sammeln, um zu sehen, wie wir etwas Neues aufbauen können.

Als du das Team kennengelernt hast, welche Parameter habt ihr für eure Zusammenarbeit festgelegt?
ANNA EHRENSTEIN: Als ich zum ersten Mal nach Dakar ging, war mir bewusst, dass diese Stadt am weitesten von meinem eigenen Kontext und den Orten, an denen ich zuvor gearbeitet hatte, entfernt war. Ich wusste, dass ich, wenn ich in einem Kontext wie im Senegal arbeiten wollte, zunächst zuhören und zusehen musste, wie ich die Projekte anderer unterstützen konnte. Wie konnte ich die Dinge einordnen, meine eigenen Vorurteile ablegen und gleichzeitig meine Fremdheit in diesem Kontext sichtbar machen? In den letzten drei Jahren war die Zusammenarbeit ein sehr spontaner und offener Prozess. Das Modekollektiv Donkafele wollte zum Beispiel aus den von uns produzierten Fotos ambulante Kunstwerke machen. Also haben wir sie auf T‑Shirts gedruckt, und jetzt kann sich das Projekt wie die Wanderhändler der Stadt durch Dakar bewegen. Alle Beteiligten können eine von uns produzierte Ressource so nutzen, wie es für sie am sinnvollsten ist.

Was mich an deinem Projekt am meisten fas-ziniert, ist die informelle Wirtschaft, die das Projekt auf Basis seiner Produktionsaktivität hervorbringt. Die Zusammenarbeit schafft eine Geschenkökonomie, die die techno-kapitalistischen Beziehungen infrage stellt, die Illich kritisiert und die heute so dominant sind. Was die Zusammenarbeit betrifft, so haben alle Beteiligten eine persönliche Migrationsgeschichte. Welche Rolle spielt das Thema Migration in dem Projekt? Welche Arten von geopolitischen Trennungen wolltest du durch die Zusammenarbeit überwinden? Ich möchte auch verstehen, wie du kulturübergreifende Merkmale der muslimischen Identität, die mit Migration und Zusammenarbeit im Globalen Süden zusammenhängen, in dem Projekt verwendest. Für mich stellen diese migratorischen Verbindungen eine Herausforderung für mögliche vereinfachte Lesearten deiner Arbeit dar, die auf racebasierten (Schwarz vs. Weiß) oder geografischen Binaritäten (Europa vs. Afrika) basieren.
ANNA EHRENSTEIN: Ganz genau. Migration führt zu einer gemeinsamen Erfahrung mit der Komplexität der Welt. Ob man nun vom Kongo in den Senegal oder von Kenia in den Senegal migriert, man hat einen komplexen Blick auf die Welt. Natürlich gibt es gemeinsame Erfahrungen, dass man in einem Aufnahmeland nicht ganz ankommen kann. Aber es gibt auch Unterschiede zwischen meinen Erfahrungen und denen des Teams, denn Deutsche behandeln Albaner ganz anders als, sagen wir, Senegalesen Gambier. Ich stütze mich auf gemeinsame muslimische Rahmenbedingungen, um zu zeigen, dass Kontexte, die sich scheinbar voneinander unterscheiden, oft eine gemeinsame Geschichte des Handels oder der Religion aufweisen. Für mich ist Albanien in vielerlei Hinsicht kulturell und politisch dem Senegal ähnlicher als Deutschland, auch wenn sich die Albaner selbst als viel europäischer betrachten würden. Aber das ist das Schöne am Erkennen von Mustern.
Orte wie der Senegal und Albanien – die keine Zentren von Imperien, sondern deren Peripherien waren – haben faszinierende Wege gefunden, mit der Aneignung von Symbolen umzugehen. In beiden Ländern verwurzelte sich der Islam in der Aneignung durch die dominierenden imperialen Mächte. Ich habe viele Gespräche darüber geführt, wie der Islam im Senegal im Widerstand gegen das französische Kolonialregime praktiziert wurde. Diese komplexen Zusammenhänge werden in meiner Arbeit visuell zitiert, aber sie sind eigentlich viel weiter gefasst. Zum Beispiel habe ich in einigen Fotografien Markenmodeartikel zu islamischen Mustern aus der Moschee von Touba, der größten Sufi-Moschee im Senegal, collagiert. Oder ein anderes Beispiel: Bei früheren Arbeiten, die ich in Albanien mit Textilien gemacht habe, dachten die Leute beim Anblick direkt an westafrikanische Studiofotografie. Ich finde es spannend, wie sich durch visuelle Zitate ganz andere Geschichten auftun.
Wie ist der Videoteil von Tools for Conviviality eigentlich entstanden? Warum hast du dich selbst in dem Video dokumentiert und die Kontrolle über die Kamera abgegeben?
ANNA EHRENSTEIN: Das war das erste 360-Grad-Video, das ich gemacht habe. Es entstand aus dem Wunsch heraus, die Demokratisierung von Hightech-Medien in Bezug zu der in den Apparat der Fotografie eingebetteten kolonialen Geschichte zu verstehen. Wir haben eine billige GoPro-Kamera verwendet, und es war wichtig, die Kamera an das Team weiterzugeben, damit nicht ich das Werkzeug diktiere. Obwohl ich mich im deutschen Kontext nicht als Weiß definiere, werde ich im westafrikanischen Kontext eindeutig als Weiß wahrgenommen. Eine der größten Herausforderungen war es, das Weißsein in der Zusammenarbeit nicht in den Mittelpunkt zu stellen. Wenn man die Kamera loslässt, sieht man, wie seltsam ich aussehe – ich sehe aus wie eine Idiotin, die versucht, etwas zu verstehen, weil mein Wolof (Landessprache des Senegal, Anm.) nicht existiert und mein Französisch schrecklich ist. Ich wollte diese Barrieren sichtbar machen, um die Unvollkommenheit der Situation anzuerkennen. Je nachdem, wie das Video gezeigt wird, ist es nicht immer möglich, den gesamten Subtext zu erkennen. Manchmal fehlt ein Subtext. Und manchmal kommt er später, um bestimmte Perspektiven zu betonen.
Wie bist du dazu gekommen, das Konzept der »Tools for Conviviality« (»Werkzeuge für die Konvivialität«) zu verwenden, um dein Projekt zu framen?
ANNA EHRENSTEIN: Obwohl ich nach Dakar ging, um an der Schnittstelle von Migration und kreativer Praxis zu arbeiten, hatte ich kein genaues Konzept. Stattdessen versuchte ich, die Interessen meines Teams zu erspüren. Etwa ein Jahr später stieß ich durch die Arbeit von Paul Gilroy auf Ivan Illich, insbesondere durch Gilroys Buch After Empire (2004), in dem er den neo-kolonialen Kontext des Vereinigten Königreichs analysiert und Konvivialität als Antwort auf das Versagen des Multikulturalismus vorschlägt. Wir haben das Konzept dann ständig neu interpretiert. Das Modekollektiv Donkafele war ziemlich skeptisch, dass wir so viel Zeit auf dieses Konzept verwendeten, während sie selbst so viel zu tun hatten. Aber nachdem sie die Ergebnisse unserer Arbeit gesehen haben, drängen sie uns nun, im nächsten Jahr weitere Workshops auf der Grundlage von Illich durch-zuführen. Der Gedanke, dass wir imstande sind, die Art und Weise, wie wir Technologie nutzen, zu verändern, indem wir uns auf das stützen, was uns umgibt, ist für Illich und für alle im Team von zentraler Bedeutung.
Zum Schluss interessiert mich noch die Rolle, die Freude in deiner Arbeit spielt. Während des gesamten Projekts hat man das Gefühl, dass ihr alle Spaß habt und eine Welt schafft, in der Freude die treibende Kraft ist.
ANNA EHRENSTEIN: Dafür gibt es mehrere Gründe. Ich möchte, dass sich die Menschen, mit denen ich arbeite, wohlfühlen. Freundschaft als Methode und das Gefühl zu vermitteln, zu Hause zu sein, sind ganz zentral. Aber ich hatte auch ein Gespräch, als ich zuletzt in Dakar war. Vor einigen Monaten gab es politische Proteste, bei denen viele Menschen getötet wurden. Die westlichen Medien sprachen so wenig darüber, weil das Leben von Schwarzen in Westafrika keine Rolle spielt. Und der Westen hat eine Empathiemüdigkeit für alle braunen und schwarzen Leben, die von diesem Planeten verschwunden sind und nicht mit Prominenten in Verbindung stehen. Wenn man sich mit den Strukturen der Welt beschäftigt, ist es sehr einfach zu sagen: Dieser Scheiß sitzt so tief« Bei Freude als oppositioneller Methode geht es also weniger darum, den Weißen im Ausstellungsraum das Gefühl zu geben: »Oh, die Welt ist so schön. Eigentlich ist sie gar nicht so schlecht. »Diese Kritik ist so schwach!« Vielmehr geht es darum, dass ich mit Menschen arbeite, die wie ich jeden Tag die Folgen des Kolonialismus am eigenen Leib spüren. Aber ich lebe die Folgen des Kolonialismus, mit einer Krankenversicherung in einem sehr gemütlichen Berlin – dem Zentrum eines Imperiums –, und ich profitiere von der weißen Vorherrschaft. Währenddessen zahlen Freund*innen von mir durch ihre Arbeit immer noch die Kolonialsteuer an Frankreich zurück. Freude ist also auch eine Möglichkeit, das Überleben zu sichern. Es ist ein Überlebensmechanismus.
Das Interview führt Carlos Kong und es ist in der Printausgabe BEYOND BORDERS erschienen.