Begegnungen mit Anton Christian
KUNST MUSS BERÜHREN UND UNTER DIE HAUT GEHEN, SONST IST ES JA WOHL KEINE. ICH HABE UNVERSEHENS DIESEN SATZ IM KOPF UND SCHON BEGINNE ICH ZU LAUFEN, LAUFE DURCH LANDSCHAFTEN, DURCH SCHNITTSTELLEN ZWISCHEN INNEN UND AUSSEN, LAUFE DURCH BILDER, KURZUM, UND FARBEN WERDEN IN MIR ZU KÖRPERN, DIE MEINE GEDANKEN BEWEGEN. SO ERGEHT ES MIR IMMER, WENN ICH ANTON CHRISTIANS BILDER BETRACHTE, SIE LÖSEN WORTE IN MIR AUS, VERSE. EINMAL BEISPIELSWEISE:
jahrhundertaufgang
chiffren lösen sich
aus den jahren die
labyrinthen gleichen
letternschwarzen korridoren
ausgelegt mit folianten
ein buch ums andere
ziehe ich aus den regalen
mysterien martyrien
Und ein andermal:
korridore unterm haar ein kretisches
labyrinth licht beschneite trassen
voll mit fabelwesen die lawinen aus
dem erinnern lostreten auf abschüssigen
pisten apern hände und beine ein rumpf
wird fassbar gesichtszüge plötzlich
Jedes Mal werde ich beim Betrachten der Bilder von Anton Christian in Korridore entlassen, in Labyrinthe, bis mir letternschwarz wird vor Augen. Dabei verstehe ich das Labyrinth freilich nicht als Synonym für einen unüberschaubaren Sachverhalt, ich erkenne darin vielmehr ein Grundprinzip der Kunst, ein System, das durch mannigfache Richtungsänderungen ein Verfolgen oder Abschreiten des Musters zu einem Spiel mit Möglichkeiten macht. „Quis ille“ fragten die Römer, wer spricht? Sie meinten damit das Ich in einem Text, wer aber ist das Ich in einem Bild? Wohin führen die Brücken, wer greift zur Axt, wer umarmt hier wen? Und wer blickt mich an?

„geboren fünfzig wochen vor jener nacht
im oktober dreiundvierzig der himmel
ein schlund spie die stadt
in trümmer aber was red ich
vom unglück wo dessen antonym
mir in die wiege geschenkt wurde
als fernbedienung der krieg in grautönen
dem farbfernsehgeprüften kind
kein hindernis und weggeknipst
kehrt er wieder in den tagebüchern eines
wehrmachtsoffiziers ich les
in diesem einzigen großen wundkrater
sieht man mit erstaunen da und dort
und selten genug ein einzelnes haus
was hast du gesehen als er es schrieb
warst du keine drei es heißt
wir haben die gleichen augen“
Er benütze die Malerei wie ein Dichter seine Sprache, höre ich Anton Christian sagen, er löse Stimmungen damit aus, in diese könne jeder seine eigenen Geschichten verpacken. Dass mir Letternschwärze in die Augen steigt, kommt ja auch nicht von ungefähr, spielt doch das Wort eine nicht unwesentliche Rolle in Anton Christians Arbeit, ob in Form von Notizen oder Gedichten. So werden mir die Bilder auch zu Trägern literarischer Aussagen, von H.C. Artmann beispielsweise, von Erich Fried oder von Günter Eich. Von Letzterem lese ich in einem der Bilder: „Ich biete zwei Tränensäcke/ gut gefüllt, / gegen einen Landregen, / der mich wachsen lässt.“ Für mich sind solcherart Gedichtzitate oder auch die Titel eines Bildes – Asche im Ofen – immer Teil des jeweiligen Werks, sie erfüllen eine Funktion und beeinflussen mich in der Betrachtungsweise. Dabei ist es mir einerlei, ob sie richtige oder falsche Fährten legen.
einer brachte den menschen
das feuer in den mund
legte ihnen ein anderer das wort
rasch wurde aus einer elegie
ein pamphlet aus einer ode
ein kriegslied
asche asche asche
höre ich rufen nacht
nacht-und-nacht
Mysterien, Martyrien, untergegangene Welten sehe ich in Anton Christians Bildern:
die schere der schritt ein fenster
zur anderswelt zum armenhaus
der monarchie im kopf versunkene
landschaften hyla hyla die lieder
verklingen a vanished world
A Vanished World, so lautet der Titel eines Buchs des polnischen Fotografen Roman Vishniac, das mir Anton Christian zeigt, als ich ihn in seinem Atelier besuche. Die Fotografien öffnen ein Fenster zu einer Welt des osteuropäischen Judentums vor dem Zweiten Weltkrieg. Die Bilder erzählen von Verelendung und Armut, sie zeigen ein Leben in den Straßen von Warschau und Lublin, Menschen sind zu sehen, die ihrer alltäglichen Arbeit nachgehen, manche vertiefen sich in religiöse Texte, andere sitzen einfach nur da, starren teilnahmslos vor sich hin, lächeln sieht man sie nicht. Kaum einer der Abgebildeten überlebte den nationalsozialistischen Terror. Er sei von den Fotografien derart beeindruckt gewesen, sagt Anton Christian, dass er schon bald mit seiner Arbeit am Vishniac-Zyklus begonnen habe.
Es war nicht mein erster Besuch in seinem Atelier. Kennengelernt haben wir uns vor vielen Jahren, ich weiß nicht mehr, bei welcher Ausstellungseröffnung. Unser Kontakt ist nie abgerissen, im Gegenteil, er hat sich über die Jahre intensiviert, mehrmals haben wir eine Verschmelzung von Bild und Wort gesucht, etwa bei den Säulen der Poesie in der General-Eccher-Straße in der Innsbrucker Reichenau im Jahr 2009. Ein Jahr später erschien das Buch Schweben im Kopf, ein Streifzug durch die Skizzenbücher Anton Christians, die ich mit lyrischen Fragmenten zu umspielen versuchte.
In zahlreichen Gesprächen sind wir uns nähergekommen, ihn interessiere nicht die Beschreibung eines Zustands, um den Zustand selbst gehe es ihm, seine Arbeit sei es, Zustände zu schaffen, mit anderen Worten: Nicht ein Mensch, der Kopfweh hat, ist für ihn von Bedeutung, sondern der Kopfschmerz selbst. Einmal las ich von ihm: „Mir ist das Leben Geheimnis genug. Alles, was da hineingehört, von der Geburt angefangen über alle Ängste und Freuden, über Sex und Krankheit bis zum Tod, das sind meine Themen.“ Das erinnert ein wenig an den markigen Ausspruch des in Paris lebenden Schweizer Schriftstellers Paul Nizon: „Das Leben ist zu gewinnen oder zu verlieren.“ Wer mit solch einer Losung antritt, lässt dem Mittelmaß keinen Raum, der geht aufs Ganze, dem verkommt Kunst nicht zur Methode und schon gar nicht zur Dekoration in diversen Vorstandsetagen. Kunst muss berühren und unter die Haut gehen, sonst ist es ja wohl keine. Unversehens habe ich wieder diesen Satz im Kopf, und schon beginne ich erneut zu laufen, Farben werden in mir zu Körpern, die meine Gedanken bewegen, denn so ergeht es mir immer, wenn ich Anton Christians Bilder betrachte, sie lösen Worte in mir aus.