Entfesselte Leinwände, kräftige Farben, orgiastische Natur
Es ist selten, dass man Kunstwerken begegnet, die dermaßen aufgeladen sind mit der reinsten Kraft der Natur, dass sie den Rezipienten erden und ihm zugleich Flügel verleihen. Kunst, die berührt, nicht auf eine aufdringliche und pompöse Art, sondern sanft, mit einer Leichtigkeit, mit einer reinen Seele. Das sind Vivian Suters rahmenlose, koloristische Lein-wände, die tief mit der tropischen Landschaft verbunden sind, in der die Arbeiten entstehen. Ihr Atelier liegt am Rande der Kleinstadt Panajachel in Guatemala in einem großen Garten, der mit frei wachsenden Palmen, Farnen, Eukalyptus- und Avocadobäumen an einen tropischen Urwald erinnert. Inspiriert von der üppigen Vegetation bemalt Suter ihre großformatigen Leinwände mit Acryl- und Ölfarbe, aber auch mit Regenwasser und Erde. Häufig arbeitet sie im Freien, wobei Blätter und Tiere ihre Spuren auf den Leinwändenhinterlassen. Die Künstlerin schafft kein Abbild der Natur, sondern lässt die Natur auf ihrer Leinwand weiterleben. Die freien Leinwände sind während des Malens auf einen Keilrahmen gespannt, es entstehen Formen, die sich auf Baumkronen, Vulkangipfel oder Wasserflächen beziehen. Danach löst sie die Leinwand vom Keilrahmen und hängt sie auf das Rechensystem, weil die Lagerung aufgrund der Luftfeuchtigkeit so einfacher ist. Die Künstlerin entzieht der Leinwand alle Fesseln, setzt ihr keine Grenzen, lässt es zu, dass die Natur auf sie einwirkt, sogar dann, wenn Hurrikane und Schlammlawinen das Atelier in Guatemala verwüsten. »Damals sah ich es nur als eine Katastrophe an«, sagt sie in einem Interview, »aber als sie zu trocknen begannen, kamen die Farben zum Vorschein, und mir wurde klar, dass ich mit der Natur arbeiten musste und nicht gegen sie. Dann begann ich, sie draußen im Regen stehen zu lassen, damit sie bespritzt werden konnten. Das war ein Wendepunkt, der alles veränderte. Dadurch wurde alles, was ich mache, zu einem Werk – und so sehe ich es jetzt auch, nicht als Einzelstücke, sondern als Ganzes.«1 Ihr Werk durchbricht nicht nur die Grenze zwischen Kunst und Natur, sondern es löst die Grenze auf. Kunst und Natur verschmelzen.

Meine Geisteshaltung ist wie eine Art Meditation, ich pflege eine osmotische Beziehung zur Natur, die sich ständig verändert. Ich denke, diese Wechselwirkung wird auch in meinem Schaffen sichtbar.
Vivian Suter (1949, Buenos Aires) stammt aus einer Künstlerfamilie. Bis zu ihrem 13. Lebensjahr lebte die Familie in Argentinien. Danach absolvierte sie in der Schweiz die Kunstgewerbeschule in Basel und hatte 1972 ihre erste Ausstellung in der Galerie Stampa in Basel. 1981, im selben Jahr, in dem sie ein Eidgenössisches Kunststipendium erhielt, wurde sie von Jean-Christophe Ammann, dem damaligen Direktor der Kunsthalle Basel, eingeladen, eine Ausstellung zu organisieren. Als Vivian Suter nach diesen ersten Erfolgen 1983 die Schweiz verließ, konnte die Kunstwelt nicht verstehen, warum sie sich für ein Leben im Dschungel entschieden hatte, und vergaß sie mehr oder weniger. Auf Einladung des Kurators Adam Szymczyk kehrte sie 2014 auf die Bildfläche und in die Kunsthalle Basel zurück: In der Einzelausstellung »Vivian Suter intrépida featuring Elisabeth Wild Fantasías 2« präsentierte sie Werke aus den letzten dreißig Jahren, zusammen mit ausgewählten Collagen von Elisabeth Wild. Adam Szymczyk war es auch, der sie 45 Jahre nach ihrer ersten Reise zur Documenta bei der 14. Ausgabe in Kassel und in Athen präsentierte. Bis dahin hatte Vivian Suter fernab der Kunstwelt auf einer ehemaligen Kaffeeplantage in Guatemala gearbeitet und ihre künstlerische Praxis weiterentwickelt.
2021 wird Vivian Suter mit dem Prix Meret Oppenheim ausgezeichnet und das Kunstmuseum Luzern bereitet die erste Retrospektive dieser beeindruckenden Künstlerin vor, die am 06. November eröffnet. In der Vorbereitungsphase treffen wir die Kuratorin Fanni Fetzer, Direktorin des Kunstmuseums Luzern vor Ort und sprechen mit ihr über dieses bahnbrechende Projekt. »Vivian Suters Biographie ist sehr speziell. Sie ordnet sich durchaus in andere weibliche Künstlerinnenbiographien ein, wie jene einer Meret Oppenheim, die spät entdeckt worden ist oder jene von Agnes Martin, die in die Wüste gezogen ist oder der Biographie einer Frida Kahlo, die ihre erste Ausstellung ein Jahr vor ihrem Tod erleben durfte«, erklärt uns Fanni Fetzer. Die Kuratorin ist aktuell dabei, das Werk der Künstlerin aufzuarbeiten und möchte aufzeigen, woher Suter kommt und wie sie sich zu der Künstlerin entwickelt hat, die sie heute ist. Die umfassende Retrospektive versammelt frühe Zeichnungen, reliefartige, unförmige Gemälde der 1980er Jahre sowie die neuesten luftigen Installationen. Zur Ausstellung erscheint eine umfassende Monografie mit Texten Fanni Fetzer, César García-Alvarez, Roman Kurzmeyer, Anne Pontégnie und Adam Szymczyk. Für Fanni Fetzer zählt zu den schönsten Aufgaben eines Kunstmuseums, genau hinzusehen, kunsthistorischen Kontext zu vermitteln und die Kunstgeschichte mitzuschreiben, damit die Rezeption der Künstlerin gerade auch in der Schweiz nachhaltig wirkt.

Seit Ende Juni läuft im Palacio de Velázquez im Retiro-Park eine große Einzelausstellung von Vivian Suter, die vom Museo Reina Sofía organisiert wurde und fast 500 Gemälde zeigt. »Der Palacio de Velázquez hat eine offene Architektur, wir hingegen 10 Räume und unser Anspruch ist es, dass das Publikum von den 70er Jahren bis heute nachvollziehen kann, wie sich Vivian Suter entwickelt hat. Berühmt ist sie für die freihängenden Leinwände, die weltweit bezaubern und es ist ein schönes Gefühl, sich in diesen Installationen zu bewegen, aber Vivian Suter kommt aus einer anderen Tradition«, hält die Direktorin des Kunstmuseums fest und zeigt uns anhand des Grundrisses, wie die Ausstellung aufgebaut sein wird. Im ersten großen Raum wird eine Installation von über 200 Leinwänden zu sehen sein. Die Künstlerin selbst wird gemeinsam mit dem Team im Museum diese Installation hängen. Es wird ein dichtes Labyrinth aus Leinwänden entstehen, eine Gartenatmosphäre, ähnlich dem Dschungel in Guatemala. Teil der Ausstellung wird auch der Film »Vivian’s Garden« von Rosalind Nashashibi sein, der die Lebenswelt der Künstlerin vermittelt. Auch zwei bedeutende Leihgaben sind Teil der Retrospektive, eine aus dem Mudam und eine aus der Tate. Dabei handelt es sich um die Installationen, die auf der documenta 14 in Kassel und Athen zu sehen waren, Nisyros (Vivan’s Bed) 2017 und Nisyros 2017. In den übrigen Räumen wird die Historie aufgearbeitet: Malerei auf Papier, Malerei aus den 80er und 90ern, Papier-Collagen, unterschiedliche mediale Suchbewegungen.
Vivian hat in den 70er Jahren ein Fotobuch gemacht, während sie auf Reisen war. Auf den Fotos posieren Menschen, Reisebekanntschaften, die eine Schiefertafel in der Hand halten, auf der Name, Ort und Datum stehen. Das hat nichts mit ihrer heutigen Arbeit zu tun, aber es ist historisch relevant«, erklärt Fanni Fetzer und fährt fort: »Sie hat Material-Assemblagen gefertigt, gemalte Reliefs, die teilweise undatiert sind. Sie nennt sie ›Unförmige‹. Bereits in den 80er Jahren hat Vivian mit den freien Leinwänden begonnen, diese waren zwar oben noch gespannt, jedoch unten lose. Es tauchen auf ihren Leinwänden Bezüge zu den Papierarbeiten auf, die sich dann auch in der Ausstellung gut nachvollziehen lassen.«
Ein Raum der Ausstellung wird zu einer Hommage an ihre Mutter Elisabeth Wild, die vor einem Jahr verstorben ist. Es werden die Collagen ihrer Mutter gezeigt, die zwar ihr ganzes Leben gestalterisch gearbeitet hat, aber nicht den Anspruch hatte Künstlerin zu sein. Mutter und Tochter könnten künstlerisch unterschiedlicher nicht sein: Während Suter den freien Zugang zur Kunst bevorzugt und das Wetter als Co-Autor einsetzt, saß Elisabeth Wild am Schreibtisch, schnitt und klebte und stellte geometrische Collagen aus Magazinen zusammen. Suter lässt ihre Arbeiten undatiert und unsigniert, Wild signierte und protokollierte akribisch jedes einzelne Werk. Dennoch hatten die beiden eine innige Verbindung. Mir kommt entgegen, dass es keinen fixen Parcour für das Publikum gibt, man verirrt sich in der Ausstellung, das schafft die Möglichkeit, dass man etwas entdecken kann. Die strengen Collagen von Elisabeth Wild werden eine Überraschung sein, aber auch die früheren Arbeiten von Vivian, die farbloser sind«, freut sich die Kuratorin. Auf die Frage, inwiefern die Künstlerin sich in ihre Retrospektive einbringt, zeigt sich Fanni Fetzer gelassen: »Sie gibt keine Richtung vor, das heißt nicht, dass Vivian keine Haltung hat, im Gegenteil. Sie geht sehr sanft mit ihren Äußerungen um, sie macht es anders, als man es vielleicht von Künstlerinnen gewohnt ist, sie hat sich ihr Leben anders eingerichtet. Im Grunde spricht sie auch durch diese achtsame Art eine tiefere Sehnsucht in uns allen an. Sie fühlt sehr viel und drückt das viel lieber in ihrer Malerei aus, als in Worten.«
Für ihren Katalogbeitrag hat Fanni Fetzer eine ganz besondere Entdeckung im Archiv der Galerie Stampa gemacht: »Ich habe etwas gefunden und zwar 9 Fragen von Vivian Suter an Vivian Suter, die Künstlerin siezt sich dabei selbst. Das Interview stammt aus den 70er Jahren. Es ist interessant, welche Fragen sie sich stellt. Als ich es Vivian erzählte, meinte sie: ‚Du weißt schon, dass ich das nicht mehr machen würde‘. Und genau das ist das Spannende daran.« Wir möchten an dieser Stelle natürlich nicht zu viel verraten, bevor die Publikation erscheint, aber es sind Fragen dabei, die viele Antworten zulassen würden und Suter beantwortet sie so, als würde sie ihre zukünftige Entwicklung schon vor Augen haben. Seit ihrer ersten Ausstellung in der Galerie Stampa 1972, in der eine Auslegeordnung mit Zeichnungen, Fotos und ein röhrender Hirsch auf einem Sockel, der mit »Gruss aus Wien« beschriftet ist, gezeigt wurden und ihrer ersten Retrospektive 2021 ist sehr viel passiert. All das wird nun in eine Ausstellung zusammenfließen. Fanni Fetzer ist sich der nachhaltigen Aufgabe bewusst: »Die Menschen interessieren sich für diese besonderen Biographien. Das gegenwärtig große Interesse an pantheistischen Themen kommt Vivian Suter zugute. Zu verstehen, wie es gehen könnte, der Mensch als Teil der Natur, als beseeltes Wesen, während gleichzeitig auch alles andere beseelt ist, der Himmel, die Hunde, die Bäume, die Wolken – dieses Verlangen verschafft ihrem Werk großen Zuspruch.« Fanni Fetzer sieht das Museum als ein starkes Instrument, um etwas zu erzählen und in diesen Erzählungen darf es auch um gesellschaftspolitische Themen gehen.
Vivian Suters Leinwände sind das Ergebnis einer Verschmelzung zwischen der westlichen Welt und dem guatemaltekischen Kontext: verschiedene Techniken, Visionen, Denkweisen und Weltanschauungen verbinden sich durch kräftige Farbe, entfesselte Leinwand und orgiastische Natur. In ihren Arbeiten kann man sich verlieren und zugleich zu sich selbst finden.