Ein Chaos, eine Krise, deren Ende zu neuer Harmonie führt
Um die innige Beziehung zwischen Athar Jabers Kunst und seinem Leben zu begreifen, muss man sich mit faszinierenden und zahlreichen Gegensätzen befassen: eine tiefgreifende Mischung aus Energie und Zerbrechlichkeit, Begeisterung und Schmerz, in der die Skulptur zu einem Spiegel wird, der sie reflektiert, ein Raum in ständiger Entwicklung, der einen unbestreitbaren und wundersamen Beweis des Lebens selbst darstellt.
Jaber wurde als Sohn irakischer Eltern in Rom geboren und wuchs zwischen Rom, Florenz und den Niederlanden auf. Derzeit lebt und arbeitet er als Künstler in Antwerpen, Belgien, wo er die Position des Associate Professor für Skulptur an der Royal Academy of Fine Arts bekleidet. Er hat viele Einzelausstellungen realisiert und an Ausstellungen in der ganzen Welt teilgenommen; seine Werke finden sich in privaten und öffentlichen Sammlungen, wie der Barjeel Art Foundation, dem Palästinensischen Museum, dem Nationalen Museum der Schönen Künste von Havanna und dem Hauptsitz der FAO in Rom.
Da er mit den Bildern des Golfkriegs aufwuchs, kam sein expressiver Impuls nicht umhin, sich mit Themen wie Leiden und Gewalt zu befassen. Gleichzeitig entwickelte er durch sein Leben in der italienischen Stadt, die als Wiege der Kunst angesehen wird, ein tiefes Verständnis für die Skulptur im klassischen Sinn und eine kontinuierliche innere Spannung auf der Suche nach idealer Schönheit.
Der Punkt, an dem sich diese beiden Szenarien begegnen, ist der Ursprung der Intensität von Jabers Sprache, die stetig nach vorne denkt, bis hin zu einer Reflexion, die das Dauerhafte harmonisiert und irgendwie vergänglich erscheinen lässt, hin zum Flüchtigen, zum Konstanten, zum Veränderlichen und zum Ende. Seine Forschung umreißt einen dynamischen Horizont, dessen Extreme sich anziehen und in einem Miteinander leben, das sein Verständnis und seine künstlerische Arbeit konstant nährt und ausdrückt und sich in einer großartigen Technik und einem durchdringenden lyrischen Timbre vervollständigt.
„Schönheit ist meiner Meinung nach keine Frage von Ästhetik, sondern von Ideologie und Kontext. In der Musik kann sich eine Dissonanz wunderschön anhören, wenn sie im richtigen Kontext präsentiert wird. Sie ist nicht angenehm für das Ohr, gibt aber getreu einen Aspekt der Realität oder bestimmter Konzepte wieder. Dissonanz ist die Unterbrechung, die Störung, die Verformung des Status quo. Das Auftauchen des Fremdartigen in einem ansonsten geordneten System. Ein Chaos, eine Krise, deren Ende zu neuer Harmonie führt. Es handelt sich hier nicht um einen Bruch, sondern um die beiden Seiten einer Münze. Obwohl ich diese unangenehme Wahrheit anerkenne, habe ich nicht die Absicht, sie zu verändern – was bedeuten würde, die Fakten zu leugnen –, sondern sie getreu darzustellen.”

Man muss nur in den Fragmenten des Heraklit lesen, in denen der Krieg die Mutter allen Übels ist, das Liebe und Hass die Welt in einer widersprüchlichen Einheit erschafft und zerstört, um zu verstehen, dass der Mensch Wundervolles erschaffen und grausame Taten begehen kann.
Wie versöhnen sich diese Gegensätze? Ich möchte mit dem neuesten Projekt mit dem Titel „Friendly fire / collateral damage” antworten, an dem Jaber arbeitet: Er plant in Zusammenarbeit mit der Militärakademie und dem belgischen Verteidigungsministerium vier monumentale Steinskulpturen zu schaffen. Die Idee ist, in den Ausbildungseinrichtungen des belgischen Verteidigungsministeriums Marmorblöcke mit unkonventionellen Methoden wie dem Einsatz ballistischer Technologien, Schusswaffen und Sprengstoffen in Skulpturen zu verwandeln. Die Skulpturen werden nach ihrer Fertigstellung in verschiedenen internationalen Museen ausgestellt und anschließend über eine Kunstgalerie oder eine internationale Auktion an öffentliche Einrichtungen oder private Sammler verkauft. Die Erlöse sollen zur Finanzierung der Wiederherstellung des kulturellen Erbes verwendet werden, das von Terrororganisationen während der jüngsten Konflikte im Mittleren Ostens beschädigt oder zerstört wurde.
Jaber musste sich während der Entwicklung seiner Gedanken immer mit einem Zugehörigkeitsgefühl auseinandersetzen, das bloße geografische Grenzen überschreitet. Ein Konzept, das zum Rahmen seiner Forschungen geworden ist, und mit dem er gemeinsame langjährige menschliche Erfahrung und verschiedene Kulturen umreißen möchte. Wir werden von vielen Grenzen überschritten, und auch wenn diese sich nicht nur auf einem Gebiet befinden, bilden sie trotzdem unseren Alltag: Diskriminierungen, denen wir ausgesetzt sind, Grenzen, die wir nicht überwinden können, Türen, die sich schließen. An einigen von ihnen, die Kriegsgebiete durchqueren, herrscht eine hohe Gewaltbereitschaft. Andere, die der Migration, spiegeln eine Flucht oder eine Ablehnung wider, und auch hier herrscht Gewalt. Wieder andere sind kulturelle Grenzen, die einfach einen Teil von uns abgrenzen.
„Paradoxerweise wurden die Grenzen vom Menschen errichtet und zu dem Zweck erfunden, eine Politik zu verfolgen, die auf Zugehörigkeit zu einem Stamm, einer Gesellschaft oder einer Nation beruht. Selbst wenn wir in einer relativ toleranten Welt leben, die offen für Dialoge ist, muss man sich darüber im Klaren sein, dass dieses Bedürfnis, einem bestimmten Stamm anzugehören, immer noch sehr aktuell ist. Und es bildet die Basis für die allgegenwärtige Gewalt. Ich beziehe mich nicht nur auf körperliche Gewalt, die nur eine Folge einer anderen, viel gefährlicheren und unsichtbaren Gewalt ist: die systematische und strukturelle Gewalt, die die meisten sozialen Dynamiken dominiert.”
Die künstlerische Arbeit, die es Jaber ermöglicht, die Grenzen aufzulösen und damit den Abstand zwischen Innen und Außen zu verringern, manifestiert sich in einem poetischen Akt, der das Territorium des niemals Endenden bevorzugt und als Belastung gegenüber dem Unendlichen verstanden wird, zum Nachteil der strengen Form, die ein Vermächtnis der Entstehung der Kunstgeschichte ist. Viele seiner Werke erinnern an das japanische Konzept des Wabi-Sabi: die Kunst, Schönheit in der Unvollkommenheit zu sehen, oder vielmehr den Impuls zur Perfektion, der den Kult der Unvollkommenheit durchzieht. In den verstümmelten Gesichtern, der verzerrten, geschändeten und zerstörten Integrität des menschlichen Körpers, den fehlenden Körperteilen, im Halbvollen, Eckpfeiler der Ästhetik eines Werkes, das Interpretationen zulässt. Eine Einladung, sich die Unsicherheiten des Lebens vorzustellen, davon zu träumen, oder sie zu akzeptieren. Die Aussichtslosigkeit, die Realität zu definieren, dass es keine Regeln für sie gibt. Auch wenn er mit den Stilmerkmalen der klassischen Kunst arbeitet, sagt seine Kunst nichts über den Renaissance-Menschen aus, den Mann im Zentrum des Kosmos, dem Maß für alles. Er stellt einen modernen Menschen dar, auf Kurs mit Gleichgewicht und stabiler Ordnung, verloren mitten in einem Universum, das sich immer bewegt und nie gleich ist. Quantentheorien und Astrophysik konfrontieren uns mit den schwer verständlichen Konzepten eines formlosen Universums – dessen unbedeutender Teil wir sind – und das sich unvermeidlich einem Zustand vollkommener Entropie nähert.
„Mich interessiert die Darstellung der Realität. Und ich glaube, dass Perfektion in der Genauigkeit liegt, mit der sie präsentiert wird. Dieser Formverlust wird oft als negativ empfunden, aber auf mich wirkt er beruhigend. Weil er das Verhalten des Universums widerspiegelt, das sich immer schneller auf das Unendliche zubewegt. Und genau hier wird das Nicht-Endliche endlich, die Darstellung des Formlosen, Mehrdeutigen, Unbestimmten und Undefinierbaren. Wir können verzweifelt versuchen, uns diesem „Verfall” zu widersetzen, aber wir müssen uns der Tatsache bewusst sein, dass früher oder später alles enden wird. Die Erde, das Sonnensystem, die Galaxien… Das alles darf uns nicht demoralisieren, im Gegenteil, es ist genau diese Fatalität, die uns antreibt, etwas zu erschaffen. Die Arbeit, die Schöpfung, ein utopischer und idealistischer Kampf gegen ein unvermeidliches Ende.”
Ein unvollendetes Gefühl des Werdens, das auch eine bewusste Entscheidung darstellt, bestimmte Figuren oder Konzepte nicht vollständig definieren zu wollen. Da jeder Vorwand von Einzigartigkeit und absoluter Wahrheit entfällt, kann man erkennen, dass Jaber in seinen Werken versucht, die Struktur vom Dogma der Form zu befreien. Seine Arbeiten scheinen eher Ausdruck eines Zweifels zu sein als eine Bestätigung der perfekten Form. Vvielleicht können sie als eine Metapher für die Unbeständigkeit der Realität angesehen werden. Fasziniert von Derridas Dekonstruktivismus, der darauf abzielt, Verschwendung, Leere, Brüche und Diskontinuität hervorzuheben, erscheinen seine Skulpturen sofort in einer Dimension, die eine Exegese offenlässt. Die Aporia ist allgegenwärtig: Es ist unmöglich, eine genaue Antwort auf ein Problem zu geben, da alle Lösungen, auch wenn sie gegensätzlich sind, gleichermaßen gelten. In diesem Sinne gibt es so viele Interpretationen eines Werkes, wie es Menschen gibt, die es betrachten, sich in dem Werk erkennen und es zu einem Verstärkungsmedium ihrer persönlichen Erfahrungen machen.
Ich sehe in seiner Arbeit einen Ort, an dem sich das Gefühl des Werdens offenbart, das unbeweglich ist und so seinen Fluss anhält. Das Werk behält in seiner Unbeweglichkeit das gleiche Gefühl des Werdens bei, das Gefühl ihres Entstehens. Eine Einladung zum Reisen, und nicht dazu, ein Ziel zu erreichen.
Eingeschlossen im Sein müssen wir daraus entfliehen; sobald wir aus dem Sein entflohen sind, müssen wir wieder zurückgehen. Auf diese Weise ist alles ein Kreislauf, alles ist eine Wende, alles ist Rückkehr, Rede, […] alles ist ein Kehrreim aus endlosen Strophen.
Gaston Bachelard, Die Poetik des Raumes