Tradition, Erbe oder Autonomie?
Claudia Kaak beschreibt ihre Ausgangsposition wie folgt: „Wenn ich mich mit einem Menschen unterhalte oder ihn beobachte, beobachte ich jede kleine Regung. Einstudierte Muster, denen ich automatisch folge und mich Frage, ob andere Menschen die Welt ebenso wahrnehmen.“ Der Prozess zieht sich aus der Vergangenheit der Künstlerin, über Erinnerung, reflektiert in die Gegenwart und spannt mit der Malerei richtungsweisende Gedanken über das Menschsein in die Zukunft. Sie öffnet dem Betrachter einen Kanal zur Selbsterkenntnis, ohne Urteil, still und wertungsfrei. Zum ersten Mal taucht das Wort Independence im Zusammenhang mit dem Essay dieser Ausgabe auf, doch flackert es bereits seit ihrer Kindheit wie ein Licht in Claudia Kaak. Sie wurde früh allein gelassen mit Gefühlen, die Erwachsene kaum zu verarbeiten im Stande sind.
Die tiefgreifenden Gefühle in der Malerei der Künstlerin lassen oft das Kind, erwachsene und alte Menschen allein zurück auf Leinwand. Sie wurden feinfühlig, tief nachempfunden, mit Öl auf Tuch gemalt. Menschen erzählen von ihren Erlebnissen, von chaotischen, teils subtilen Gefühlsebenen, davon, wie schwer der Lebensweg jedes Einzelnen ist, wenngleich die Unabhängigkeit bleibt. Auch wenn es schwer fällt, den Begriff von Independence darin zu begreifen, emotional entkoppelt allein zurückzubleiben, öffnet sie schonungslos dieses Fenster in ihren Bildräumen.

Das eigenständige Werk ist Ergebnis und neue Fundgrube für die Geisteswissenschaften.
Die Arbeiten haben autobiographische Bezüge, tragen innere Namen der Künstlerin. Einige erinnern sie an Situationen, Gefühle, Aussagen, spiegeln literarische Inhalte oder Filmausschnitte wieder. Serie 12 bezieht sich auf ein weltberühmtes Werk. Kaak schreibt dazu wie folgt: „Serie 12 ist symbolisch angelehnt an die Ballade ‚Der Erlkönig‘ von J. W. von Goethe (1782). Ein Vater reitet mit seinem kranken Sohn durch die Nacht. (…) Es bleibt die Frage, wodurch genau das Kind ‚stirbt‘. (…) Ein stilistischer Hinweis findet sich in der letzten Strophe. „er hält in den Armen das ächzende Kind“, „in seinen Armen das Kind war tot“. (…) Der Sohn steht symbolisch für die Opfer von Vergewaltigung, der Erlkönig für die Täter, der Vater für die Personen, die bei diesen Taten wegschauen und bagatellisieren.“
Kaak bezieht sich auf innere Werte, auf Werte der Gesellschaft, ohne erhobenen Fingerzeig. Sie schält die Figuren fast archetypisch aus ihrer Wahrnehmung und menschlichen Erfahrung heraus. Der Mensch an und für sich strebt nach Freiheit und Unabhängigkeit – hier im besonderen Maße der Künstler in seinem Schaffen, bleibt stets im gesellschaftlichen Umfeld eingebunden. Zunächst drängen sich gerade im künstlerischen Kontext der Arbeiten kulturelle und traditionelle Bezüge auf.
Die Idee der (Portrait)-Malerei ist mit einer langen, schweren Tradition behaftet, besitzt eine Unzahl Vergleichsmomente, an welchen sich die aktuelle, junge Malerei scheinbar zu messen hat. Diese Vergleichsmomente bieten sich erst auf zweiter oder dritter Ebene das Aufblitzen eines alten Meisters in unserem Kopf ist ein Schmunzeln wert über unsere archetypischen Vorstellungen von Menschen und Menschsein und dessen Darstellungen. Derartige Assoziationen sind keine qualitative Messeinheit der Kunst.
Wir sehen bei Claudia Kaak’s Bildern zunächst Typologien des humanoiden Antlitzes, die der Betrachter im Zusammenhang mit alten Meistern oder filmischen Szenen der jüngeren Vergangenheit irgendwie kennt. Halbwissen – ein Dilemma, welches nicht nur auf Seite des Konsumenten liegt.
Das kulturelle Erbe ist genauso in uns wie genetisches Erbe, doch der Kampf gegen die kulturelle Tradition ist erfolgsversprechender als die Auflehnung gegen das Erbgut. Abgesehen von den geschlossenen Serien lassen sich die Werke serienunabhängig als Einzelwerke kombinieren. Jedes Bild besteht für sich. Im Ausstellungskontext ergeben sich Assoziationen – episodenhafte Ausschnitte und Auffälligkeiten, die immer wieder andere Werte aufzeigen, beugen und verändern.
Die Kombination der Werke untereinander und Konfrontation mit anderen Genres anderer Künstler – sind spannend und gut möglich – je nach Thema verschieden interpretierbar und „erweiterbar“ vom Betrachter. Dies ist ein Hinweis auf „das offene Kunstwerk“. Jede Arbeit für sich ist eigenständig, unabhängig und ein für sich abgeschlossenes Kunstwerk, gehört diese zu einer Serie oder nicht. Die Zusammensetzung der Inhalte ist gespeist durch Traditionen der Künstlerperson und durch aktuelle, zeitgenössische Wahrnehmung, Einflüsse, die ihre Position erklären, die ihr Unabhängigkeit im künstlerischen Schaffen geben.