Die Erinnerung, unsere Lebensbegleiterin, klopft leise oder mit der Kraft eines reißenden Stroms an die Tür und lässt Episoden und Ereignisse, die noch nicht im großen Meer der Vergessenheit versunken sind, vor unseren Augen – ob sie nun offen oder geschlossen sind – vorbeiziehen. Es kommt manchmal vor, auch wenn das »unvermeidliche Scheitern unserer Bemühungen, das zu wahren, wiederherzustellen oder neu zu erschaffen, was nicht mehr da ist«, von dem Daniel Mendelsohn in Three Rings. Eine Geschichte des Exils, der Erzählung und des Schicksals hinsichtlich des Werks von W. G. Sebald spricht, schwer zu leugnen ist.
Wenn ich an Daniel Spoerri denke, wird dennoch meine Erinnerung sofort wachgerufen. Von Februar bis April 2004 habe ich im Palazzo Magnani in Reggio Emilia eine anthologische Ausstellung seines Werks kuratiert und organisiert, die nicht zufällig den Untertitel »La messa in scena degli oggetti« (Die Inszenierung von Objekten) trug: einhundertfünfzig Werke, die seit den 1960er Jahren entstanden sind. Sie gingen von berühmten Tableaux-Pièges bis hin zu einigen späteren Zyklen, wie der bretonischen Apotheke – den Wasserflaschen, die in den »heiligen Brunnen« in der Bretagne gesammelt wurden –, Ermittlungen zu einem Verbrechen, Künstlertafeln, anatomisches Kabinett, Le carnaval des animaux – mit den Illustrationen, die Johann Kaspar Lavater von Charles Le Brun übernommen hatte –,Geschichte der Schriftkästen, die geduldig in den stillgelegten Druckereien gesammelt wurden, und ein langer Aufbau (37,5 m), der nie zuvor ausgestellt wurde, mit den Tafeln der Genkette vom Flohmarkt, die sich entlang der vier Wände des großen Abschlussraums erstreckten: zehn, vielleicht zwanzigtausend Objekte, die Daniel im Laufe der Jahre erworben hatte und die aufgrund ihrer Affinität oder ihres Kontrasts nebeneinander geklebt wurden.

Seitdem sind mehr als achtzehn Jahre vergangen, und ich habe Daniel seit mindestens einem Jahrzehnt nicht mehr getroffen. Nach der Ausstellung hatte er die Angewohnheit, in Reggio anzuhalten, wenn er auf der Durchreise war – oft auf dem Weg oder zurück aus dem Garten, den er in Seggiano, südlich von Siena, angelegt hatte und in dem sich eine Sammlung monumentaler Werke unter freiem Himmel von ihm und anderen Bildhauern befindet –, um uns in ein Restaurant zu bringen, in dem noch der »Wagen mit gemischtem Kochfleisch« angeboten wurde. Für ihn war das Fleisch, das aus der dampfenden Brühe hervorging, wie eine Insel aus der Tiefe des Meeres nach einem tellurischen Ereignis, ein echter »Triumph «, eine Vision, die ihn an die prächtigen Zeremonien erinnerte, mit denen in der Antike große Anführer geehrt wurden.
Spoerri – ein Künstler und ein Mensch, der von einem großzügigen Drang beseelt ist, sich in all die schönen und interessanten Dinge zu vertiefen, die das Leben uns bieten kann – hatte in seiner Kindheit schreckliche Momente erlebt. Der am 27. März 1930 in Galati (Rumänien) geborene hatte einen jüdischen Vater, der als Missionar im Auftrag der lutherischnorwegischen Kirche nach dem Kriegseintritt Rumäniens an der Seite Nazideutschlands deportiert und in einem Pogrom ermordet wurde. Seine Familie, die 1942 fliehen musste, erhielt dank der Schweizer Staatsbürgerschaft seiner Mutter Lydia Spoerri einen Schweizer Pass. Lydia, Daniel und seine fünf Geschwister flüchten nach Zürich, wo ihr Onkel mütterlicherseits Theophil Spoerri, Rektor der dortigen Universität, lebte. Dort lernt Daniel einige seiner lebenslangen Freunde kennen: Jean Tinguely, Eva Aeppli, Dieter Roth, Meret Oppenheim. Von 1952 bis 1957 war er Tänzer und Choreograf, danach stellvertretender Direktor des Theaters Darmstadt. Ab 1957 hielt er sich in Paris auf, wo er unter anderem Marcel Duchamp, Man Ray, Robert Filliou und Roland Topor kennenlernte; 1960 gehörte er zu den Unterzeichnern des Manifests »Nouveau Réalisme« und schloss sich später der Fluxus an. Seine erste Einzelausstellung fand in Mailand in der Galerie Schwarz statt. Am 18. Mai 1968 eröffnete er das Restaurant Spoerri in Düsseldorf – die »Eat Art« – und begann, ganz besondere Bankette zu organisieren, die berühmt werden sollten und aus denen mehrere seiner Werke hervorgingen. Seitdem hat Spoerri intensiv an seinen Konstruktionen gearbeitet, die in vielen wichtigen Ausstellungen präsentiert wurden, darunter die große Retrospektive im Centre Pompidou in Paris in den Jahren 1990 – 1991. Nachdem Spoerri 1997 Paris verlassen hatte, lebte er zwischen der Schweiz und Italien und seit einigen Jahren in Österreich.
Es gibt eine tiefe Logik, die jede meiner Erfahrungen mit der anderen verbindet«, gestand Daniel. »Es handelt sich weniger um einen Bruch, als vielmehr um eine Evolution, wie es bei einem Baum der Fall ist, aus dem Zweige hervorsprießen, aus denen wiederum andere hervorgehen. Das ist das Leben. Ich möchte, dass man mich – Tänzer, Theatermann, Koch und Künstler – nennt, dass ich in einem Leben, in meinem Leben, viele verschiedene Leben vereint habe.
Tatsächlich vernimmt man in einigen Werken Spoerris einen subtilen Sinn für Drama, für ein »Theater der Grausamkeit«, auch wenn sie oft das Gesicht einer Art Karneval annehmen, wenn Menschen – und in seinem Fall Objekte – ein neues Gesicht annehmen können, indem sie sich dessen entledigen, was sie ihr ganzes Leben lang zu tragen pflegten: eine auf den Kopf gestellte Welt, die ihnen eine neue Identität verleiht. Daniel erinnert sich: »Ich bin vom Tode fasziniert. Ich glaube nicht, dass es außerhalb des Lebens irgendeinen Lebenssinn gibt. Ich übernehme das Zitat von Mallarmé, das besagt: ‘Un coup de dés jamais n’abolira le hasard‘, das heißt, ein Würfelwurf wird niemals den Zufall abschaffen – hasard ist ein Wort, das aus dem Arabischen kommt und eben genau ‚Würfel‘ bedeutet. Ein Würfelwurf wird also niemals einen Würfelwurf abschaffen,und so ist der hasard, der Zufall, das Einzige, was niemals abgeschafft werden kann. Der Zufall ist das Absoluteste auf der Welt.
Nun denke ich nach so vielen Jahren mit liebevoller Klarheit an die Begegnungen mit Daniel zurück, die in Vorbereitung der Ausstellung und des von Skira herausgegebenen Katalogs (der ein langes Interview mit ihm enthält, aus dem einige hier wiedergegebene Passagen stammen) in Cabbiolo, einem kleinen Dorf, das in einem Tal am Fuße der ihn überragenden hohen Berge, in der Nähe von Bellinzona, nicht weit von der Straße, die zum San Bernardino-Pass führt, stattfanden. Ich dachte sofort, dies sei der ideale Ort, um »im Verborgenen zu leben«, wie Epikur riet, um sich von der Hektik der Welt fernzuhalten. Ich weiß, dass Daniel diesen Ort später verlassen hat und nun seit einigen Jahren in Wien lebt, einer Stadt, die sich mit einer Geschichte von kulturellem Eifer und Innovationen rühmen kann und in der Sigmund Freud lange Zeit lebte – es liegt für mich auch nahe, Freudsche Interpretationen mit einigen Ergebnissen von Spoerris Arbeit zu assoziieren, der übrigens darüber hinaus eine langjährige Leidenschaft für grundlegende Texte in der Kulturgeschichte pflegt. Eine Auswahl: Hypnerotomachia Poliphili von Francesco Colonna, 1499 in Venedig von Aldo Manuzio veröffentlicht; Divina Proportione von Luca Pacioli, 1509 ebenfalls in Venedig veröffentlicht (mit der berühmten Theorie des Goldenen Schnitts); das erste Buch über Physiognomie, De Humana Physiognomia von Gianbattista Della Porta, 1580; die Abhandlung von Charles Le Brun (für Spoerri, »erinnert Le Brun an Darwin zweihundert Jahre früher «) über die Beziehungen zwischen menschlicher und tierischer Physiognomie; die Gedächtniskunst und Das Welttheater von Frances A. Yates. Andere Autoren haben Spoerris Leben begleitet: Robert Walser, Blaise Cendrars, Claudio Magris, Italo Svevo und Umberto Saba.
Was die tieferen Gründe für seine Assoziationen mit Objekten angeht, so erinnert Daniel Spoerri gerne daran, dass in Michel Foucaults Les mots et les choses eine von einem chinesischen Kaiser erstellte Klassifizierung von Tieren veröffentlicht wird, die Borges zitiert: »Die Tiere sind unterteilt in: dem Kaiser gehörend, einbalsamiert, domestiziert, Spanferkel, Meerjungfrauen, fabelhaft, streunende Hunde, in dieser Liste enthalten, verrückt, Unzählbare, mit einem Pinsel aus sehr feinem Kamelhaar gezeichnet, usw., die gerade den Wasserkrug zerbrochen haben, die von weitem wie Fliegen aussehen« und so weiter. »Eine Klassifizierung, die andere Regeln verfolgt als die, die wir einsetzen, die vielleicht die von Kindern sind und dazu beitragen, bestimmte Assoziationen von Objekten zu erklären «, bemerkt Daniel.
»Das Theater hat sicherlich meine Werke beeinflusst; oft denke ich, dass alles, was sie zusammenhält, das Theater ist, mit meinen Erfahrungen, die ich zunächst als Tänzer und dann als metteur en scène, als Bühnenbildner von Werken von Ionesco, Picasso und Tzara erworben habe. Von 1957 bis 1959 arbeitete ich als Bühnenbildassistent am Theater Darmstadt an der Inszenierung von Friedrich Schillers Don Carlos und Georg Büchners Der Tod des Danton. Ich habe drei Bühnenbilder entworfen, die mir sehr am Herzen liegen: Molières Menschenfeind, Shakespeares Wintermärchen und Heinrich Manns Professor Unrat«.
Daniels Werke hängen normalerweise an der Wand, senkrecht zu unserem Blick, der sie betrachtet: »Ich platziere die Tafeln ins Blickfeld, so dass alles objektiv wird: Ich sehe darin Kreise, Linien, geometrische Formen, alles wird zu etwas anderem.« Spoerri ist ein profunder Kunstkenner, er hat sich mit vielen Werken der Tradition auseinandergesetzt und so wurde sein kultureller Hintergrund um eine Vision bereichert, die Gleichgewichte, Beziehungen, Reime und Fluchtlinien innerhalb einer Komposition berücksichtigt. »Ich bewundere Arcimboldo sehr: Ich betrachte ihn als einen Vorfahren, der mir viel gegeben hat, er ist eine der Schlüsselfiguren meines Lebens, ebenso wie Bomarzo, Francesco Colonna, Hendrick Goltzius. Ich liebe den gesamten Manierismus und auch die manieristische Literatur.«
Man könnte sagen, dass Spoerris Werke eine Art szenisches Schreiben sind, das nicht auf Worte zurückgreifen kann, sondern sich auf Bilder und Objekte stützt. In seiner Arbeit besteht ganz und gar die theatralische Idee von etwas, das sich zeigt, das sich abspielt: Seine Werke sind so konzipiert, als ob sie auf einer Bühne vor einem Publikum stehen müssten. Darin besteht ja auch ihre Entstehungsgeschichte: Spoerri arbeitet auf einem Hintergrund, der auf einem horizontalen Tisch ruht, und hat daher einen Blick von oben – sobald seine Werke entstanden sind, wandern sie an eine vertikale Wand; der Betrachter wird sie daher genießen wie der Schaffende. Ich habe Daniel Spoerri bei der Arbeit gesehen: Nach der Wahl der Objekte, die er einführen wollte, arbeitete er mit einer außergewöhnlichen Fertigkeit der Handgelenke und Finger, veränderte die Position der Objekte, bis seine stummen Protagonisten die Position einnahmen, die er sich vorstellte – ich hatte die Möglichkeit, die gleiche Fähigkeit zu beobachten, während er in der Küche eine Mahlzeit zubereitete. In seinen Gesten als Künstler und Koch steckt die Erfahrung eines Menschen, der als Tänzer mit den unendlichen Möglichkeiten des Körperausdrucks vertraut ist und als Bühnenbildner und Theaterregisseur nicht nur spürt, welcher Hintergrund, welche Kostüme und welche Ausstattung für eine Aufführung angemessen sind, sondern auch, welche Position die Schauspieler auf der Bühne einnehmen sollen.
In seinen Werken und Gedichten in Form von Objekten werden wir im Grund Zeuge einer poetischen Rekonstruktion des Universums der Dinge: Die Dinge dienten möglicherweise antiken Bräuchen und hatten einen Namen – die Identität des Objekts ist seine Geschichte, seine Beziehung zu den Menschen, die es benutzt haben – es ist aber möglich, ihm neue zuzuordnen, was in gewisser Weise die immerwährende Transformation, die unaufhörliche Entwicklung der Welt widerspiegelt. Dies setzt voraus, dass man auf eine Sehnsucht, eine Fähigkeit zur Selbstbeobachtung, ein Fieber gestoßen ist – das wie ein Krankheitssymptom das gesamte Werk Spoerris kennzeichnet und zuweilen verschlimmert –, so dass das scheinbar Selbstverständliche immer wieder in Frage gestellt wird. Daniels Werk ist wirklich eine große Lehre in Sachen Freiheit.
Für Mario Praz ist das Haus »der Spiegel des Lebens«; wenn man ein Haus betritt, kann man versuchen, die Strömung nachzuvollziehen, die in ihrem Fluss das sedimentiert hat, was nun vor unseren Augen als die Anhäufung und Synthese der Leidenschaften einer Existenz, der Bildung einer »sentimentalen Erziehung« erscheint. In Haus von Daniel Spoerri in Cabbiolo kamen mir Visionen und Artefakte entgegen, die mir Blitzeseindrücke und Einblicke in den Künstler gewährten: in erster Linie einige seiner historischen Werke (die goldene »schwarze Brille« aus den 1960ern, mit geraden Nadeln, die in Richtung der Augen auf das Glas geklebt wurden); die Sammlung von Stöcken; der Vorrat von Gegenständen im Keller und das Atelier im ersten Stock, sein »Ideenlager«, das sich im Laufe der Zeit angesammelt hat und zum Einsatz bereitsteht; die Bücher und Fotografien. An den Wänden und in den Regalen einer kleinen Glasvitrine sind Gegenstände und Werke aus seinem »sentimentalen Museum« aufgereiht, die ihn nun wohl in sein neues Zuhause nach Österreich begleitet haben. Neben Werken von Künstlern gibt es auch Zeugnisse seiner Begegnungen mit Freunden und jenen, die mit ihm einen Teil des Weges in die Kunstbereiche geteilt hatten – darunter etwa das Blechschild des Künstlers Nam June Paik mit der Aufschrift »When too perfect, lieber Gott böse« (»Wenn du allzu perfekt bist, ist Gott unzufrieden«), das denen amerikanischer Autos ähnelt, ferner einige ‚Reliquien‘, wie etwa der Strick eines Selbstmörders, der sich erhängt hat, mit einer alten Inschrift aus Tinte: »Joseph Bringuier, 10 juin Pendu 1849 par amour.« Nichts Überraschendes, wenn man mit Daniel Spoerri zu tun hat.
Ausstellung
AUSSTELLUNGSHAUS SPOERRI
März bis Oktober
Fr.–So. 11.00 – 18.00
www.spoerri.at