Kein Follower sondern ein Creator
Do what you love, lautet das Leitmotiv von Künstler, Designer und Fotograf Marco Morosini. Ein Motiv, das inhaltlich den Kern dieser Ausgabe »AFFINITY« auf den Punkt bringt. Wir treffen den in Urbino und Augsburg ausgebildeten Industriedesigner in den Marken im »Castello di Granarola«, wo es ihm in einem Jahrzehnt konsequenter Gestaltung gelungen ist, einen historischen Ort zu einem kunstvollen Erlebnis zu erheben. Die Gäste finden hier, auf einem ländlichen Hügel nur wenige Kilometer von der Adriaküste entfernt, einen magischen Rückzugsort, dessen Ambiente und Atmosphäre in jedem noch so kleinen Detail von der Handschrift Morosinis geprägt ist. Es fühlt sich so an, als würde man im Atelier und Museum des Künstlers den Urlaub verbringen. Morosinis Werke zeichnen sich durch die Kraft von Farbe und Licht aus. Es sind hauptsächlich Fotografien, Zeichnungen, poetische Schriften, Objekte und Skulpturen, die im Kontext des Ortes ein vielgestaltiges Universum bilden und zu einer Manifestation grenzenloser Kreativität werden.
Nach Jahren internationaler Tätigkeit für große Marken und zahlreichen Projekten im Bereich Design, Kunst und Publikation hat Morosini selbst sich darauf reduziert, nur mehr das zu tun, was er liebt und lebt das sehr konsequent. »Never look back«, sagt er überzeugt und möchte am liebsten nur über die Zukunft mit uns sprechen. Dennoch bringen wir im Gespräch mit ihm einige Highlights aus seiner Vergangenheit in Erfahrung: In Miami präsentierte er vor Jahren anlässlich der Art Basel die Ausstellung und den Dokumentarfilm »The Art of Selling a Bag«, in dem er sich mit der Beziehung zwischen Kunst, Design und Industrie auseinandersetzte. Er stellte seine Werke »uominiuomini« in Los Angeles und San Francisco aus und veröffentlichte Design-Buchbände wie beispielsweise »KOSOVARS Camp Hope«, »DividiRimini« und »No Copyright«. Außerdem gründete er gemeinsam mit seiner Frau Barbara die populäre Lifestyle-Marke BRANDINA.


HUGO V. ASTNER: Marco, diese Ausgabe beschäftigt sich mit dem Thema »Affinity«. Darunter verstehen wir bezogen auf die Kunst eine Art Verbindung, ein natürliches Verständnis für sie ohne die Kunst an sich »gelehrt« zu bekommen. Glauben Sie auch daran, dass es das gibt und welche Affinitäten hat ein Marco Morosini?
MARCO MOROSINI: Ich glaube an Affinitäten. Sie können verschiedenen Quellen entspringen: Orten, Räumen, Menschen, Beziehungen. Zwei Personen, die gemeinsam etwas Magisches erschaffen, verspüren sicher eine Affinität zueinander und zum gemeinsamen Erschaffen. Es gibt manchmal im Zusammenspiel regelrechte Explosionen der Kreativität, zu denen man individuell gar nicht fähig wäre. Es gibt Räume, die Affinitäten evozieren. Das können Kirchen oder Theater sein, wo das, was sich dort bisher abgespielt hat, auch ein Stück weit dem Raum erhalten bleibt, ihm eine besondere Atmosphäre verleiht. Ich war international in urbanen Zentren unterwegs, jetzt lebe ich am Land und bin zu oft alleine im Kreieren. Mir wird immer mehr bewusst, wie wichtig es ist, Menschen zu finden, die ähnliche Affinitäten haben, mit denen man sich konfrontieren kann, die auf demselben Niveau der Kommunikation sind und auf den Austausch Wert legen. Zu viele Menschen fokussieren sich auch im kreativen Bereich auf den rein wirtschaftlichen Aspekt. Ich hingegen tue etwas, weil ich es liebe. Ich würde sogar so weit gehen, zu sagen, ich kann nur das tun, was mir gefällt. Das ist mein natürlicher Zugang zur Affinität.
Wo sehen Sie die Schnittstelle von Design und Kunst? Gibt es Beispiele in Ihrem Schaffen, die derartige Überlagerungen erklären?
Ja, unbedingt! Cross-over zwischen Design und Kunst ist der Kern meiner Arbeit. Der britische Industriedesigner und Architekt Ron Arad ist dafür auch ein sehr gutes Beispiel. Seine Skulpturen wurden zu Objekten. Wenn ich beispielsweise Stoffe entwerfe, dann ist der Ausgangspunkt vielfach eines meiner Kunstwerke. Viele meiner Design-Objekte haben das Potential, auch andere Dimensionen zu eröffnen als nur jene des täglichen Gebrauchs. Es gibt Stühle, die ich entworfen habe, auf denen man gut sitzen kann, deren Form dich aber zugleich zum Nachdenken anregt. Das ist es, was ich damit meine.
Haben Ihre Eltern Ihren Zugang zur Kreativität gefördert bzw. wie haben Sie diese besondere Gabe für Fotografie, Design und Kunst entwickelt?
Meine Eltern haben mich indirekt zur Kreativität getragen, weil sie mir genau das Gegenteil davon vorgelebt haben. Sie haben sich meiner Entwicklung nie in den Weg gestellt und das habe ich als sehr positiv wahrgenommen. Mein Vater hat eine spezielle Biographie, kommt aus einer sehr armen Familie, man könnte sagen, er war unter Anführungszeichen ein »Geächteter« und hat jede Erlösungsmöglichkeit aus dieser Situation genutzt. Meine Mutter kommt aus einer einfachen Bauernfamilie. Für die beiden war ein Rahmen an der Wand ein Bild, unabhängig davon, was sich in dem Rahmen befand. Wir haben in meiner Kindheit und Jugend nie über Kunst gesprochen oder jemals ein Museum besucht. Ich habe aber sehr viel Lego gespielt, was meine Kompositionsgabe gefördert hat. In meinem Zimmer durfte ich mich entfalten, wie ich wollte. Mal waren die Wände schwarz, mal gelb. Einmal wurde das Zimmer zu einer Kirche, dann eine Tischlerei, danach eine Diskothek. Meine Eltern haben mich hier nie eingeschränkt und dafür bin ich ihnen dankbar.
Wie würden Sie Schönheit definieren? Hat sie im Design und in der Kunst überhaupt eine Daseinsberechtigung?
Die Schönheit ist etwas Universelles. Sie ist ein übergeordnetes Konzept, etwas Gottgegebenes. Sie ist im Design, in der Kunst, in der Musik; sie entspringt der Harmonie. Ich halte es da gern mit Franco Maria Ricci, der immer proklamierte: »Schönheit muss gehegt und gepflegt werden.« Sie nicht zu bewahren, ist meiner Meinung nach ein Verstoß gegen natürliche Gesetzmäßigkeiten. Historische Gebäude aus früheren Jahrhunderten verfallen zu lassen, empfinde ich beispielsweise als einen solchen Verstoß. Für mich ist es auch letztendlich immer wieder die Schönheit, die mich zum Staunen bringt.
In welcher Beziehung stehen die Begriffe Schönheit, Leidenschaft, Kunst und Design zueinander – gibt es da in Ihrer Vorstellung einen gemeinsamen Nenner?
Ich würde diesen auf das Bemühen reduzieren, seine eigene Seele nicht zu beschmutzen. Um die Seele rein zu halten, muss ich mich der Schönheit stellen und darf sie nicht zurückweisen. Die Schönheit kommt uns oft entgegen, aber wir müssen sie auch annehmen können und sie kultivieren.
Wie definieren Sie den Designprozess von Marco Morosini und welche Rolle spielen Visionen und Träume in Ihrem Gestalten?
Mmh … Morosini hat viele Ideen entwickelt, die auf dem Papier als Entwurf existieren, aber nicht produziert wurden. Ich habe in der Vergangenheit oft grafische Konzepte umgesetzt. Viele meiner innovativsten Werke sind noch in der Schublade. Sie sind keine Antwort auf kommerzielle Bedürfnisse, sondern es sind echte Erneuerungen. Es erfordert Mut und »Andersdenkende«, um sie auf den Markt zu bringen. Ich habe niemals etwas kopiert. Meine Ideen und Objekte sind wie meine Stimme, die zu mir passt, weil sie naturgegeben ist. Das Träumen, das Fantasieren, überkommt mich manchmal sogar mitten in Gesprächen; ich verlagere dann die Aufmerksamkeit, beginne zu skizzieren und versinke darin. Wenn dann etwas daraus entsteht, dann hat es nichts mit einem kommerziell durchdachten Plan zu tun. Und das gibt meinem Schaffen einen natürlichen Wiedererkennungswert. Ich bin kein »Follower«, sondern ein »Creator«. Und wenn man das ist, dann kann man diese Gabe auch nicht ablegen, sondern sie überkommt einen, ob man will oder nicht, ob der Moment passend ist oder unpassend.
Also spielen auch Trends in Ihrem designorientierten Schaffen keine Rolle …
Ich lasse mich nicht von Trends beeinflussen, aber ich lasse mich von der heutigen Gesellschaft inspirieren. Die größten Inspirationen erhalten wir außerhalb unseres gewohnten Umfelds, dort, wo man sie am wenigsten erwartet.
Welche Rolle sollte die Kunst Ihrer Meinung nach in unserer Gesellschaft, aber auch in Bereichen wie Wirtschaft oder Ökologie spielen?
Die Kunst muss Teil der Erziehung sein, sie muss Teil unseres Bildungssystems werden und sollte so früh wie möglich Einzug in unser aller Leben finden. Kunst ist etwas Abstraktes und dennoch das einzige Vehikel, dir andere Dimensionen zu eröffnen. Kunst bringt dich dorthin, wo man ohne sie nicht hinkäme. Ein Leben, das die Auseinandersetzung mit der Kunst kennt, ist ein anderes und dieser Umstand kann für eine gesunde Gesellschaft essentiell sein. Das wirkt sich dann in weiterer Konsequenz auf den achtsamen Umgang mit Wirtschaft und Ökologie aus. Die Natur hat die kreativsten Formen, die es gibt, die über allem steht. Jeder, der ein natürliches Verständnis für Kunst hat, kann gar nicht anders als die Natur in all ihren Ausprägungen zu respektieren.
Wie könnte man es schaffen, Menschen den Zugang zur Kunst zu erleichtern, sodass sie zu Gestaltern werden anstatt Verwalter bleiben?
Nicht jeder kann Gestalter sein. Ich beispielsweise kann auch nicht Fußball spielen. Jeder hat seine Fähigkeiten. Wichtig ist, dass man das, was man kann und gerne macht, kultiviert. Wenn es Gestalter in unserer Gesellschaft gibt, dann sollten diese als solche wertgeschätzt werden. Und was den Zugang betrifft, so glaube ich an die verbreitete Kunst, die zugängliche Kunst. Kunst muss nicht in einer Galerie ausgestellt sein, um von ausgewählten Menschen wahrgenommen zu werden. Kunst kann dann viel bewirken, und davon bin ich überzeugt, wenn sie öffentliche Räume erschließt.
Nach welchen Kriterien und Tugenden definieren Sie einen erfolgreichen Designer bzw. erfolgreichen Künstler? Wovon hängt Erfolg primär ab?
Hier würde ich zuerst mit einer Frage zur Definition beginnen: Ist nur der bildende Künstler ein Künstler? Ich denke nicht. Ein Künstler ist jemand, der es über seinen Ausdruck schafft, dir eine neue Dimension zu eröffnen. Bei uns gibt es da so eine Redensart: Jemand, der mit den Händen arbeitet, ist ein Arbeiter; jemand, der mit Händen und Kopf arbeitet, ist ein Handwerker; und jemand, der mit Händen, Kopf und Herz arbeitet, ist ein Künstler. Man spürt den Unterschied, ob ein Objekt nur eine bestimmte Zweckmäßigkeit erfüllt oder eben eine künstlerische Seele hat. Der Erfolg hat meiner Ansicht nach nichts mit der Qualität der Kunst zu tun. Es gibt viele erfolgreiche »Künstler«, deren Arbeit keine Seele hat und umgekehrt.
Namhafte italienische Automobilhersteller haben Ihre Expertise als Designer in Anspruch genommen. Nach welchen Kriterien wurden Sie ausgewählt und mit welchen USPs oder Konzepten konnten Sie überzeugen?
Ja, das stimmt. Auch wenn ich lieber über die Zukunft spreche, ich habe früher beispielsweise für Ferrari gearbeitet. Damals wurde ich über mein Projekt »uominiuomini« entdeckt und konnte in der Folge mit meinen Projektideen überzeugen. In diesen Zeiten wurde auf den künstlerischen Zugang eines Designers Wert gelegt. Das hat sich in den letzten Jahren sehr verändert. Es geht vielmehr um Wirtschaftlichkeit.
Können Sie uns bitte kurz erklären, wie Sie auf die Marke BRANDINA gekommen sind und wie sich dieses außergewöhnliche Lifestyle-Projekt entwickelt hat?
Brandina war eine zufällige Erfindung. Ich habe ein Buch über die Bademeister in Rimini gemacht. Das Cover habe ich aus dem Material der Liegestühle, die man umgangssprachlich bei uns Brandina nennt, gefertigt. Und die Qualität dieses Materials hat mich und meine Frau Barbara dann davon überzeugt, Taschen daraus herzustellen. So ist die Marke Brandina entstanden. Die Idee alleine bringt noch keinen Erfolg, sondern wir mussten in der Lage sein, sie auf eine anspruchsvolle Art und Weise umzusetzen. Heute ist »Brandina« populär und zwar vor allem deshalb, weil sich die Taschen und Accessoires nicht nach der Mode richten. Brandina verkörpert vielmehr eine Art des Lebensgefühls des Unabhängigseins. Es geht im Kern um »Positive Mood«.
Sie haben hier ein mehr oder weniger verfallenes Schloss angekauft und mit viel Liebe renoviert: Castello di Granarola – wie kam es dazu?
Die Schönheit des Ortes habe ich erst später erkannt. Ich habe etwas Historisches zurückgebracht, das zerstört war. Es ist ein Geschenk an mich selbst und auch an alle Menschen, die gerne hierherkommen und sich wohlfühlen. Manchmal braucht es nicht so viel, um etwas »schön« zu machen. Auch einfache Gesten können enorm wirkungsvoll sein. Diese Welt verlangt nach Schönheit und das hat nicht immer nur mit finanziellen Möglichkieten zu tun. Im Castello di Granarola führt man Dialoge, man macht Erfahrungen, man lebt und erlebt einen künstlerischen Geist. Es ist ein international bekannter Ort geworden, ein Rückzugsort für Kunst, Kultur und Schönheit, etwas Authentisches und zugleich Spontanes. Alles hier ist mit meiner Freude am Gestalten und am Tun verbunden. Alle, die das Schloss besuchen, leben diese Erfahrung mit mir mit und das ist großartig.
An welchen Projekten arbeiten Sie derzeit und was wünschen Sie sich für die Zukunft bzw. welche Erwartungen haben Sie?
Ich arbeite derzeit an Projekten für Valentino Rossi. Sein neuer Store, den ich konzipieren durfte, wird Ende November eröffnet. Für so eine »Legende« zu arbeiten, ist etwas sehr Besonderes. Dafür bin ich dankbar. Der Store ist eine regelrechte Pilgerstätte der Fans, insofern ein äußerst wichtiger Ort. Und das wollte ich im Kern erreichen: Man wird nicht einen Store betreten, sondern einen Ort, der eine Seele hat, die Seele einer Legende. Und was die Zukunft betrifft, so plane ich mein Design-Studio auf das Gelände des Schlosses zu verlegen. Der darunterliegende Olivenhain eignet sich hierfür. Dadurch soll der Ort um ein Element erweitert und noch vielfältiger belebt werden. Ich möchte prinzipiell auch im Studio nur mehr Projekte gestalten, die der Kunst entspringen und nicht einem Businessplan. Ehrlich gesagt bin ich kein Fan von Erwartungen, denn Erwartungen implizieren schon per se eine Enttäuschung.
Auch wenn wir verstehen, was Marco Morosini damit sagen will, so können wir der letzten Aussage in diesem Moment definitiv nicht zustimmen. Das Gespräch mit ihm und unsere erlebten Tage im »Castello di Granarola« haben nämlich exakt das Gegenteil bewiesen: Unsere Erwartungen wurden bei Weitem übertroffen. Wir sind dankbar für dieses Kennenlernen, den kreativen Austausch und fasziniert von einem Ort, der beseelt ist von seinem unermüdlichen Schöpfer.