Lydia Corbett née Sylvette David
MEINE KINDHEIT WAR IN VIELERLEI HINSICHT ZIEMLICH NORMAL. ICH WUCHS IN DEN 1970ER JAHREN IM LONDONER WESTEN AUF, HATTE EINE SCHWESTER UND SOLLTE BALD EINEN KLEINEN BRUDER BEKOMMEN. MEIN STIEFVATER FUHR TAG FÜR TAG ZUM ARBEITEN IN DIE INNENSTADT.
Meine Mutter war allerdings anders: Unser Haus war geschmackvoll mit allerlei antiken Stücken, französischen Spitzen, japanischen Objekten, vom Holzwurm zerfressenen Kruzifixen und alten vergoldeten Spiegeln geschmückt. Überall hingen ihre Gemälde. Mutter trug lange Röcke und blendend weiße viktorianische Blusen mit spitzenverzierten Bündchen und Kragen oder ihren Lieblingsrock mit Tartanmuster und ein schwarzes Oberteil. Ihr blondes Haar war lang, und um ihren Hals trug sie Hippie-Halsketten, die beim Gehen einladend hin- und herschwangen.
Ich erinnere mich an einen Tag 1973, als ich erstmals ahnte, dass meine Mutter eine ziemlich einzigartige Geschichte hatte. Das italienische Fernsehen war unmittelbar nach dem Tod Picassos zu einem Interview gekommen: Mutter holte alte Fotos aus einem verstaubten Lederkoffer und erzählte. Ich hatte natürlich alles schon öfter gehört und kümmerte mich nicht weiter darum – ich dachte, jeder Mensch erlebe irgendwann einen „Picasso-Moment“.

Jahre später schrieb ich auf die Bitte meiner Mutter hin ein Buch über ihr Leben: Es heißt „I Was Sylvette“, und Sie können darin die ganze Geschichte nachlesen.
Sie wurde 1934 als Sylvia Jocelyn David (später wurde daraus Sylvette) geboren. Gegen jede Konvention jener Zeit verließ ihre englische Mutter, eine großartige Malerin, den Vater, selbst ein Maler und Betreiber einer Galerie in Paris, um frei auf einer Naturisteninsel zu leben. Bald darauf brachte sie die Flucht vor den Nazis und den Schrecken des Zweiten Weltkriegs in die Berge des Departements Drôme. Nach dem Krieg reiste Sylvette nach England und besuchte dort die berüchtigte freie Schule von Summerhill in Suffolk, wo sie zwar allerhand über die Liebe und das Rauchen lernte, aber sonst nur wenig. Zwei Jahre später kehrte sie mit ihrem Freund im Schlepptau zurück zu ihrer Mutter Honor ins französische Töpferdorf Vallauris.
Sie war 19, außerordentlich schön und zudem unglaublich schüchtern. Picasso, der in Vallauris ein Atelier hatte, erspähte sie bei einem Spaziergang und skizzierte sie 1953 aus der Ferne. Die beiden lernten sich schließlich kennen, als der berühmte Maler zwei Stühle kaufte, die Sylvettes Freund Toby gebaut hatte. 1954 bat Picasso sie, für ihn Modell zu stehen. Sylvette fühlte sich geehrt und sagte zu: So begannen 3 Monate intensiver Arbeit, in deren Zug ganze 60 Werke entstanden. Picasso brachte seine Neugierde über die ruhige junge Frau und ihr stilles Geheimnis in seinen Gemälden und Skulpturen zum Ausdruck. Durch die Blicke und die Wertschätzung des großen Künstlers entwickelte die schüchterne Sylvette Selbstvertrauen. Picasso wurde nicht müde zu betonen, dass Kreativität der Weg zum Glück sei. Seine Worte fielen auf fruchtbaren Boden: Mit 26 hatte Sylvette eine Erleuchtung, änderte ihren Namen, heiratete wieder und wurde Lydia Corbett, selbst eine außerordentlich produktive Malerin.
Wenngleich sie von Geburt an kreativ war, erhielt Lydia nie eine künstlerische Ausbildung, sondern entwickelte ihren frühen Stil vor allem durch das Beobachten der Werke ihrer Eltern. Der deutsche Künstler Wols, der während der Krieges ebenfalls in die französischen Berge geflüchtet war, und später Bernard Buffet, ein junger Künstler, den Lydias Vater entdeckt hatte, spielten ebenfalls eine wichtige Rolle in ihrem Werdegang. Der nunmehr in Rente lebende Francis Kyle stellte in seiner Galerie in Mayfair 30 Jahre lang Werke meiner Mutter aus: „Lydia Corbetts spontaner, exzentrischer und unvorhersehbarer Charme ist ein nicht wegzudenkender Teil ihres anhaltenden Reizes.“
Der Kunstkritiker Lucien Berman schreibt:
Lydia Corbetts Bilder vermitteln die Wünsche und Ängste ihrer Zeit. In ihren Interieurs erahnt der Betrachter das Sehnen nach spiritueller Geborgenheit, einem Ort jenseits dieser Welt. In den abgebildeten Räumen spürt man den Drang, anderswo zu sein. Lydias beste Aquarellbilder sind stets eine Annäherung scheinbar inkompatibler Stimmen oder Ansichten. Was mühelos erscheint, kostet in Wahrheit Leid und Schmerz. Die Arbeit im Studio bedeutet für Lydia Corbett, wieder frei zu sein: Frei zu malen, was ihr beliebt, und nicht auf andere warten zu müssen. Corbett ist völlig eingenommen vom Mysterium Tremens des Malens, wie Miró einst sagte: La souffrance, c’est le sacrement de la vie. Die Ölgemälde des letzten Jahrzehnts scheinen vor allem vom Expressionismus beeinflusst. Ihr Werk ist voller Motive mit offenem Ende, voller Herausforderungen und voll der Unvollkommenheit des Seins. Sylvette David war Picassos letzte, unerreichbare Liebe. Für mich gehen Corbetts jüngste Selbstporträts weiter als jene von Dora Maar. Maar sagte einst: „Nach Picasso, Gott.“ Sören Kierkegaard schrieb: „Die Funktion des Gebets besteht nicht darin, Gott zu beeinflussen, sondern die Natur des Betenden zu verändern.“ Genauso besteht die Funktion der Kunst nicht darin, den Künstler zu beeinflussen, sondern vielmehr die Natur des Betrachters zu verändern.