Annäherungen an Paul Cézanne
STILLLEBEN MIT FLASCHE UND APFELKORB
Beginnen wir mit einem ganz typischen Stillleben von Paul Cézanne, wie wir es kennen. Das Arrangement wirkt zwar etwas gekünstelt. Es fehlt die Raffinesse der Technik, wie wir sie von großen flämischen Künstlern kennen, die mit der Illusion des Realismus gespielt und diese zur Perfektion entwickelt haben. Aber das ist es nicht, was Cézanne will. Er will nicht abbilden, er will formen. An einer Stelle in seinen Reflexionen über die Malerei sagt Cézanne, das unvoreingenommene Gehirn des Künstlers sei wie eine lichtempfindliche Platte, ein Registrierapparat, in dem Augenblick, wo er schafft. Das erinnert alles sehr an Camus, mehr als ein Jahrhundert später, der das pensé méditeranée zum Paradigma eines glückenden, um nicht zu sagen glücklichen Daseins macht, welches bei ihm allerdings stets vom Gegenpol, dem Absurden, bedroht ist, dem französischen Wortspiel folgend, dass pensé de midi auch die Mitte, das rechte Maß bedeuten kann1, meint es nicht nur ein Plädoyer für ein gutes Leben, sondern vor allem ein Streben nach Harmonie im Seelenfrieden mit sich selbst. Bei beiden findet man jedenfalls ein Credo zur Einfachheit, zum Unmittelbaren. »Im Grunde denke ich an nichts, wenn ich male«, sagte er einmal. »Ich sehe Farben. Ich gebe mir Mühe, ich habe Freude daran, sie so, wie ich sie sehe, auf meine Leinwand zu bringen. Sie ordnen sich auf gut Glück, wie sie wollen. Manchmal ergibt es ein Bild.« Diese Bescheidenheit hat auch etwas Erschütterndes, denn sein nachlassendes Augenlicht und sein schlechter Allgemeinzustand machten ihm mit zunehmenden Alter große Sorgen, vor allem seine zunehmende Sehschwäche, auf der für ihn ein Fluch lag, denn er beklagte sich: »Ich sehe die Flächen übereinandergeschoben« – »und manchmal scheinen mir die Geraden zu fallen«, aber vielleicht ist es gerade das, was Cézanne so besonders macht und von den Naturalisten abhebt.

LES JOUEURS DE CARTE (DIE KARTENSPIELER)
zählt auch zu seinen frühen Werken. Dieses Bild sprengt, obwohl sehr traditionell im Motiv zweier kartenspielender Männer, den Geschmack des gesellschaftlich verankerten Gefallens oder Zeitgeistes vor 1900. Er soll es in der Periode zwischen 1892–95 fertiggestellt haben. Obwohl in gewisser Weise sehr naturalistisch, gibt es die Situation zwar in gewissem Rahmen wieder, und setzt Figuren beim Kartenspiel in nicht ungewohnte Posen. Aber das war es nicht, was man im Salon einreicht. Es provozierte durch sehr flächig gesetzte Konturen der beiden Gestalten gegen einen sehr unbestimmten Hintergrund, der die Figuren noch flächiger, fast wie ausgeschnitten anmuten lässt, wobei weder Proportionen noch Perspektiven stimmen, dafür fasziniert der psychologische Ausdruck, mit großer Raffinesse und Verve umgesetzt. Weit davon entfernt, dass so etwas wie »primitive Kunst«, heute als eine Genrebezeichnung, damals schon existiert hätte, spürt man das deutliche Ausscheren eines Provokateurs, und das war Cézanne auch durchaus bewusst: »Ich bin ein Primitiver, ich habe ein träges Auge. Ich habe mich zweimal bei der Ecole des Beaux-Arts beworben, aber ich mache kein Ganzes: wenn mich ein Kopf interessiert, mache ich ihn zu groß« Cézanne ahnt, dass er damit nicht punktet, in der Gesellschaft, in der er sich als wohlhabender Bohemien bewegt, denn sein Vater, ein ehemaliger Hutmacher, später sogar Bankier, hatte finanziell für ihn vorgesorgt. Andere mussten Hunger leiden. Er war Stammgast im »Deux Garçon«, einem gastronomischen Nobellokal und Café der Belle Epoque, das leider vor wenigen Jahren abbrannte, um mit seinem Jugendfreund, Emile Zola, zu diskutieren. Miteinander reden ist neben dem Kartenspielen das, was die Leute in einer Zeit ohne Fernsehen oder Computer am meisten taten. Spielen ist Kommunikation. Für Pascal war es eine Art Wette, darauf, dass man am Ende gewinnt. Es gab Hoffnung.

MONTAGNE SAINTE-VICTOIRE
Dieser Berg, nahe von Aix, wird Cézanne ein ganzes Leben lang beschäftigen. In diesem Motiv wird vor allem eines deutlich, was er den Wunsch nach Realisation nannte, wenn er diesen Berg immer wieder und wieder zu seinem Motiv machte. Sein deutlichstes Bekenntnis zur Sensibilität, die offen für alles ist: für Formen der Geometrie, das subjektive Empfinden von Farbe und ihre Nuancen, sogar für Gerüche, die ihn inspirieren, und um die ganze optische Sensation zu »realisieren«, muss der scharfe, blaue Duft der Pinien in der Sonne sich vermählen mit dem grünen Dufte der Wiesen, die taufrisch sind an jedem Morgen, und mit dem Geruch der Steine, dem Duft des fernen Marmors der Sainte-Victoire. »Alles lässt sich darin zusammenfassen«, beschreibt Cézanne seinen neuen Weg, Affinität zu begreifen, die in einer vollkommen imaginierten Harmonie liegt, ja einer Verschmelzung mit dieser, ähnlich einem LSD-Rausch, der alle Sinne zugleich ins Bizarre steigert: »Empfindung haben und die Natur lesen«4, heißt es in einem seiner Schlüsselsätze zur Kunsttheorie, einer Empfindung, die aus seinem tiefsten Innersten hervorbricht, wie Eruptionen eines Vulkans, besessen vom Motiv, von dem er getrieben ist, das er in seinen Annäherungsversuchen vor sich hertreibt, wie ein Kind mit einer Peitsche den rotierenden Kegel und das versucht er auszudrücken, zu dechiffrieren, um schließlich davon abstrahierend auf ganz einfache Formen, wie Kugel, Kegel oder dem Zylinder, zurückzugreifen. »Man muß an diesen einfachen Formen malen lernen, danach kann man alles machen, was man will.« Und das in einer fast naiv anmutenden Offenheit.
Das, was Cézanne in der Malerei entdeckt hat, und was man als seinen Weg bezeichnen könnte, den er konsequent verfolgt hat, bis zu seinem Tod, war der: »Es gibt keine Linie, es gibt keine Modellierung, es gibt nur Kontraste. Diese Kontraste werden aber nicht von Schwarz und Weiß hervorgebracht, sondern von der farblichen Empfindung. Aus der richtigen Beziehung zwischen den Farbtönen ergibt sich die Modellierung. Wenn sie harmonisch nebeneinandergesetzt werden und alle vorhanden sind, modelliert sich das Bild von selbst.

DIE SCHÄDELPYRAMIDE
Eine Anordnung von drei menschlichen Schädeln, ein Motiv, an dem Cézanne, wenn das Wetter draußen nicht schön war, immer als Stilleben-Arrangement in seinem Atelier malte. Man könnte fast vermuten, aus Zeitvertreib. Aber täuschen wir uns nicht. Er spielt sozusagen mit ihnen. Er arrangiert diese Schädel einmal gestapelt übereinander, dann wieder mit Papierblumen zusammen in Reih und Glied in den verschiedensten Positionen. Und er wird dieses Motiv immer wieder malen, bis zu seinem Tod. Es ist neben dem »Montagne Sainte-Victoire« vielleicht eines seiner wichtigsten Motive, wie überhaupt sein ganzes Sinnen und Trachten in der Malerei nur einen Zweck hat: das Motiv. Ihm zu entsprechen, die Natur in der Auffassung richtig wiederzugeben, im Unterschied im bloßen Abbilden, ist es alleine, was ihn an der Kunst interessiert, und diesen Weg ist er in aller Konsequenz gegangen, ohne je wirklich am Ziel anzukommen. Diese Schädelarrangements haben für Cézanne auch eine große Symbolwirkung, einerseits der Vergänglichkeit, welche die Zeit hinter sich gelassen hast, kontrastierend mit einer schlichten Ästhetik der Dauer, die darin steckt, die Hülle des Geistes in einem anderen Zusammenhang zu sehen. Ein »Memento mori«, welches zugleich ein ewiges Spiel darstellt, die räumlichen Beziehungen zwischen einstig lebendigen Wesen neu zu definieren, um Kunst daraus zu machen. Es erinnert irgendwie an das »Weltenkind« HERAKLKITS, das Brettsteine hin und her schiebt, ohne dass sich dem Außenstehenden, dem Betrachter der Sinn dieser Tätigkeit erschließt, die an sich zufällig und vollkommen nutzlos ist. Ist sie das?

LES GRANDES BAIGNEUSES (DIE GROSSEN BADENDEN)
Die Badenden sind Cézannes ein wichtiges Bild der Spätzeit. Wenn man so will: sein spätes Hauptwerk. Vielleicht sein wichtigstes. In diesem Motiv, das für Cézanne ein vollkommen verinnerlichtes ist, zeigt sich sowohl die Komplexität seiner Imagination, denn er nahm Rücksicht auf seinen Ruf, den er nicht auf’s Spiel setzen wollte, beim Malen nackter Frauen, ganz anders und konträr zu Modigliani, der den nackten Körper vor sich sehen musste, um zu malen. So gestand er Karl Ernst Osthaus, dem Gründer des Folkwang-Museums in Hagen, der ihn 1906 besuchte: »Für alle diese Frauen steht mir ein alter Invalide». Vielleicht war es auch seine angeborene Scheu vor Frauen, oder zumindest das Wahren einer gewissen Distanz, die erst in der Farbe aufgelöst werden könnte, wenn sie das auszudrücken vermag, was er Tiefe nannte. Das scheint zunächst ein wenig paradox, ist aber sehr konsequent gedacht, wenn man Cézannes Intentionen in der Malerei verstehen will. »Die Hauptsache in einem Bilde, meinte er, sei das Treffen der Distanz. Die Farbe müsse jeden Sprung ins Tiefe ausdrücken. Daran erkenne man das Können des Malers.
Emile Bernard, selbst Maler, später Kunstkritiker, der 1907 ein Buch »Erinnerungen an Paul Cézanne« herausbrachte, erfuhr das ganz hautnah: »So sah ich ihn während des ganzen Monats, den ich in Aix zubrachte, an dem Bild mit den drei Totenköpfen, das ich als sein Vermächtnis ansehe, sich abmühen. Dieses Gemälde wechselte fast jeden Tag Farbe und Form, und doch hätte man es, als ich zum ersten Mal Cézannes Atelier betrat, als fertiges Werk von der Staffelei nehmen können. Wahrlich seine Art zu arbeiten war ein Nachdenken mit dem Pinsel in der Hand.
Cézanne zweifelte stets an sich: »Was mir fehlt«, sagte er vor diesen drei Totenköpfen zu mir, »das ist die Realisation. Vielleicht komme ich noch soweit, aber ich bin alt, und es ist gut möglich, daß ich sterbe, ohne dieses höchste Ziel erreicht zu haben: Realisieren! Wie die Venezianer!« Der Weg ist das Ziel, lehrte schon Konfuzius. Aber Cézanne wollte sich damit nicht abgeben. Und er blieb darum ein ewig Suchender.


Aktuelle Ausstellung
THE EY EXHIBITION: CÉZANNE
Bis 12. März 2023
Täglich 10.00 – 18.00
tate.org.uk | @Tate