FÜR DEN DESIGNER UND KÜNSTLER SERGE MOUANGUE AUS KAMERUN HAT DER URSPRUNG DER MENSCHHEIT KEINEN DEFINIERTEN ANFANG. SEINE IDENTITÄT DEFINIERT ER NICHT ÜBER SEINE HERKUNFT, SONDERN ÜBER SEIN VERHÄLTNIS ZU FAMILIE, LEBENSSTIL UND SPIRITUALITÄT. SEINE INSPIRATION HOLT ER SICH AUS UNTERSCHIEDLICHEN DISZIPLINEN UND KREIERT DARAUS EINE 3. ÄSTHETIK – EINE, DIE IHREN URSPRUNG AUSGERECHNET IN DER VERSCHIEDENHEIT HAT.
Aufgewachsen ist der 45-Jährige in einem rauen Pariser Vorort, umgeben von Menschen mit Migrationshintergrund. Die Kultur aus der Heimat musste an die neue Umgebung angepasst werden. Obwohl sein Vater ihn als Ingenieur oder Richter sah, wählte Serge selbstbestimmt seinen eigenen Weg: „Ich hatte großes Glück, früh die Kunst für mich zu entdecken, in Europa damit zu experimentieren, und in Australien einige Zeit leben und arbeiten zu dürfen, wo auch mein erstes Kind zur Welt kam.“ Fünf Jahre verbrachte Mouangue danach in Tokyo und ging seiner kreativen Tätigkeit als Designer nach. All diese Orte und Erfahrungen prägten letztendlich seine Persönlichkeit und seinen Charakter. Seine Vision der Welt hat sich daraus entwickelt. „Du kannst dich mit einer Kultur identifizieren, aber das ist nicht deine Identität. Identität ist etwas viel Intimeres. Es ist eine unbewusst sich ständig verändernde Vorstellung. Das ist ein Grund, warum das Thema Identität so sensibel ist“, ist der Künstler überzeugt. Mouangue glaubt nicht, dass wir notwendigerweise nur von dem Ort kommen, an dem wir geboren oder aufgewachsen sind. Wir können uns auch anderswo „zugehörig“ fühlen. Auch Traditionen und Religionen sind für den Künstler keine feste Wahrheit. Für ihn erneuern sie sich ständig, und ihr Ausdruck ist nicht konstant. „Der Dialog zwischen den Kulturen in unseren Gesellschaften ermöglicht ein großes Potenzial für Vielfalt, aber ich denke nicht, dass dies für alle offensichtlich ist.“ Der kulturelle Dialog erfordert in den Augen Mouangues mehr Inklusivität, Verständnis und Respekt für Unterschiede und Gemeinsamkeiten.

Wir Menschen neigen dazu, unseren gemeinsamen Ursprung aus Galaxien und Universen zu vergessen.
Genau hier setzt auch seine Kunst an: Die Kombination von Ästhetik aus zwei verschiedenen visuellen Kulturen führt Mouangue in ein unbekanntes visuelles Territorium. Dieser neue Raum ist das, was er die 3. Ästhetik nennt. Eine Möglichkeit, die Symbole der zwei unterschiedlichen Kulturen neu zu definieren und neu zu bewerten. Die 3. Ästhetik versucht durch Symbole ein Zugehörigkeitsgefühl auszulösen. Indem er die Phantasie der „reinen“ Identität verwischt, erschafft er einen neuen Wert, mit dem sich jeder identifizieren kann: universell und offensichtlich.
Die Reise des Projekts „Blood Brothers“ beginnt in den Wäldern des südöstlichen Kamerun. Die von den Bildhauern der Pygmäen handgefertigten Skulpturen dienen als Hocker, aber auch als Schutz vor bösen Geistern. Die „Blood Brothers“ sind die Nachkommen einer kultivierten Mischung aus japanischer traditioneller Kunst durch einzigartige Veredelung mit Lack und symbolträchtiger afrikanischer Stammesskulptur. Serge Mouangue arbeitete über zwei Jahre eng mit Masaru Okawara zusammen, einem Lackhandwerker der 9. Generation, der seit über 40 Jahren im Dienst des Kaisers von Japan steht.
Der Titel des Projekts trifft den Nagel auf den Kopf: Denkt man an die im historischen Sinne rituelle Blutsbruderschaft, so wurde diese in unterschiedlichen Traditionen und Kulturen als Zeichen der besonderen Verbundenheit unter nicht leiblichen Brüdern geschlossen. Dieser Bund verschaffte ihnen gegenseitig dieselben Rechte und Pflichten, wie es ansonsten nur die Geburt ermögage licht. Damit kann der Bund, einmal geschlossen, nicht mehr aufgehoben werden.
Serge Mouangue und Okawara Sensei arbeiteten zwei Jahre intensiv daran, um die „Blood Brothers“ zu erschaffen. Jeden Schritt wogen die beiden sorgfältig ab, denn das Ergebnis sollte die perfekte 3. Ästhetik sein. Das Alter der alten Pygmäen-Skulpturen wurde exakt bestimmt, die Herkunft des Holzes und wie es sich an die veränderte Umwelt angepasst hat, wurden erforscht. Mehrere Stufen der Behandlung des Holzes wurden durchlaufen, um Schädlingen vorzubeugen und es Feuchtigkeitsschwankungen zu entziehen. Die Hocker mussten behutsam bearbeitet und auch umgearbeitet werden, damit sie der anschließenden Oberflächenspannung beim Auftragen des Lackes standhielten. Mehrere Beschichtungen und Grundierungen sowie längere Trocknungsphasen folgten, um schließlich die Oberfläche mit japanischer Tinte und Wasser zu polieren. Der Respekt vor jedem einzelnen Schritt dieses Prozesses sowie die enge Interaktion zwischen den beiden Künstlern mit der Kunstform ermöglichen es, dass der Alterungsprozess die Tiefe der Lackfarbe verstärkt und die Tugend der skulpturalen Basis erhöht, wodurch sich die Blutsbruderschaft formvollendet präsentiert.
Mehrere Museen zeigten unmittelbar Interesse an diesem außergewöhnlichen Projekt, wie beispielsweise das New Yorker Museum of Arts and Design (MAD), wo die „Blood Brothers“ 2011 zum ersten Mal ausgestellt wurden. Das Kunstwerk verkörpert Afrika und Japan in einer Kombination ihrer individuellen ästhetischen Kultur. Die Betrachter sind fasziniert und assoziieren häufig auch außerirdische Wesen damit. Derzeit entwickelt Mouangue verwandte Arbeiten und plant sie in eine größere Ausstellung aufzunehmen, die in Hongkong gezeigt werden soll.
Ein weiteres spannendes Konzept des vielfältigen Designers ist Wafrica Kimono. Hier erschafft Serge Mouangue mit typischen Stoffen aus Afrika und dem japanischen Schnitt des Kimonos wiederum eine neue 3. Ästhetik. Die Kimonos werden aus ganz unterschiedlichen Motivationen erworben: als Kleidung, dekorativ zum Aufhängen oder zum Sammeln. Jeder Kimono ist ein Einzelstück. Auch die performative Kunst findet sich in Mouangues experimentierfreudigem künstlerischem Ausdruck. Für ihn ist Performance wie reisen. Er nimmt sein Publikum mit in eine neue Welt. Derzeit arbeitet er an einem Projekt, bei dem die afrikanische Frisur zum Gefäß des japanischen Ikebana wird. Diese Live-Performance verschleiert und vereint in einem mehrdeutigen Ausdruck zwei verschiedene ästhetische Welten zu einer dritten. „Es ist für mich schwierig zu beschreiben, was ich mache und wie ich es mache. Ich weiß es einfach nicht. Ich beobachte, fokussiere, betrachte und träume viel. Das Verständnis meiner ästhetischen Auslöser ist für mich ein wichtiger Teil der Schöpfung“, beschreibt Serge Mouangue. Derzeit läuft sein kreativer Transformationsprozess extrem schnell ab, was ihm erlaubt, sich mit Kunst, Design und Architektur zeitgleich zu beschäftigen. Der konkrete Aspekt der Schöpfung dauert dann viel länger, denn dort gilt es den Rhythmus der Materialien zu respektieren, die in seinen Prozessen eine übergeordnete Rolle spielen.
Aus einer sprachlich strukturierten Kultur kommend, ist Musik seine Hauptquelle der Inspiration. Auch visuelle Kunst evoziert für ihn Töne. Klänge, die Spiritualität und menschliche Komplexität verfolgen, stimulieren seinen kreativen Prozess: „Musik von John Coltrane, polyphoner Gesang der Aka-Pygmäen in Zentralafrika, Steve´Reich und Esbjörn Svensson Trio bereichert mein Leben auf eine Weise, die keine andere Kunstform hat. Manchmal wünschte ich, ich wäre selbst ein Klang.“
Durch seine Arbeit versucht der Künstler fernab von nationalen Strukturen einen neuen Weg der „Zugehörigkeit“ anzubieten und zwar in Form eines Potenzials, sodass unsere Ursprünge nicht identifiziert werden können, sondern in irgendeiner Weise universell sind: „Oft wird heute die Frage der Identität dem Nationalismus gegenübergestellt. Es scheint, als würden wir von der Angst überwältigt werden, etwas zu verlieren, was uns eigentlich nie gehört hat; nie jemandem gehören wird…“