Romeo Castellucci | Regie, Bühne, Kostüme und Licht.
TAGTÄGLICH FLIMMERN DIESE BILDER ÜBER UNSERE FERNSEHSCHIRME, WIR SEHEN MENSCHLICHES ELEND, TERROR, KRIEG, BLUT, LEICHEN – UND BLEIBEN DOCH MEIST UNBERÜHRT. IM THEATER ZWINGT ROMEO CASTELLUCCI DIE ZUSCHAUER JEDOCH HINZUSEHEN. UND, OBWOHL WIR WISSEN, DASS NUR SCHAUSPIELER/SÄNGER AUF DER BÜHNE SICH IN KUNSTBLUT WÄLZEN, ES „NUR“ GESPIELT IST, WENN SIE, MIT URIN UND FÄKALIEN BESCHMUTZT, IN DEMENZ VERSINKEN, AUCH WENN DAS STERBEN NUR AUF DER BÜHNE STATTFINDET – SIND WIR BETROFFEN, SCHOCKIERT. WER CASTELLUCCIS ARBEITSWEISE KENNT, JUBELT IHM ZU, WER DEN SKANDAL SUCHT, WIRD IHN FINDEN. KAUM JEMANDEN WIRD ER KALT LASSEN. SEIT DEN 1980ZIGERJHAREN ZÄHLT ER ZU DER AVANT-GARDE DES EUROPÄISCHEN THEATERS, SEINE ARBEITEN WURDEN IN MEHR ALS 50 LÄNDERN GEZEIGT.
Unter dem Motto der Salzburger Festspiele „Passion, Leidenschaft, Ekstase“ übernahm Romeo Castellucci die Regie, das Bühnenbild und die Beleuchtung der Oper „SALOME“ von Richard Strauss und schuf ein beklemmendes Gesamtkunstwerk. Schon Monate vorher waren sämtliche Vorstellungen ausverkauft, allein der Name des Regisseurs bürgte für eine Sensation. Und die bekam das Publikum. Die Arkaden der Felsenreitschule zugemauert, das Bühnenbild ein archaisch kahler Felsen vor dem sich das Drama über Begehren, Sinnlichkeit, Wollust und Perversion abspielte, welches die Zuschauer in das Geschehen auf der Bühne geradezu hinein zog. Franz Welser-Möst dirigierte die Wiener Philharmoniker. In der Rolle der Salome brillierte der neue Star am Opernhimmel, die litauische Sängerin Asmik Grigorian. Gábor Bretz war als Jochanaan zu hören, John Daszak verkörperte Herodes, Anna Maria Chiuri die Herodias.
Romeo Castellucci wurde 1960 in Cesena geboren. Er studierte Bühnenbild und Malerei an der „Accademia di bello arti di Bologna“. 1981 gründete er mit Claudia Castellucci und Chiara Guidi die Theatercompagnie Societas Raffaello Sanzio, benannt nach einem der bedeutendsten Maler und Architekten der Hochrenaissance, Raffael. Die Theatercompagnie, deren künstlerische Leitung Castellucci bis heute innehat, wurde durch ein schonungsloses, wuchtiges Gegenwartstheater bekannt. 2005 leitete Castellucci die Theaterbiennale in Venedig, 2008 wurde er mit Valerie Dréville als „artiste associe“ zum Festival in Avignon eingeladen.
Sein Stück „Sul concetto di volto nel figlio di Duo“ (Über das Konzept des Angesichts bei Gottes Sohn) sorgt seit 2012 für einen Theater Skandal. In Italien, in Frankreich, wo die Vorstellungen in Paris nur unter Polizeischutz stattfinden konnten, in Berlin und ‑im Rahmen der Wiener Festwochen2014 – am Wiener Burgtheater ‑ist das Publikum schockiert, die katholische Kirche spricht gar von Blasphemie. Die Empörung ist groß, denn auf der Bühne bewerfen Kinder ein übergroßes Christusportrait von Antonello da Messina (Antonio di Giovanni d’Antonio 1429/1439.1479 mit Handgranaten). Die Gemälde des bedeutenden Malers der Renaissance zeichnen sich durch eine besondere Lebendigkeit unter Verwendung dramatischer Lichteffekte aus und ziehen den Betrachter durch diese optische Täuschung fast hypnotisch an. Aber Blasphemie? Werden doch Religionen jeden Tag auf vielen Plätzen der Welt verhöhnt oder Kinder in kämpferische ideologische Konflikte mit einbezogen. In einer anderen Szene wechselt der Sohn seinem an Demenz erkrankten Vater die Windeln. Er ekelt sich, auch das Publikum, denn Fäkaliengeruch strömt in den Zuschauersaal. Alles Theater? Spielen sich diese Szenen nicht tagtäglich in ähnlicher Form ab? Wir wissen darum und verdrängen doch dieses grausame Dahinscheiden.

ZUSCHAUEN IST KEIN UNSCHULDIGER VORGANG
Wiener Festwochen 2017: Castelluccis Inszenierung von „Democracy in America“, nach Alexis de Tocqueville, erregt sowohl Besucher als auch Kritiker. Diametral deren Kritiken. Während Christine Dössel/SZ „…eine bezwingende szenische Collage von biblischer Anmutung, zusammengesetzt aus archaischen Bildern von dunkler, verschwommener, irisierender Schönheit“ sieht, urteilt Simon Strauss/FAZ: „Was war das nur? Die nicht enden wollende Schulstunde eines durchgedrehten Vertretungslehrers, der den behandelten Stoff nicht kennt und seine Unkenntnis durch besonderen Aplomb wettmachen will?“
Dem Münchner Publikum ist er mit Richard Wagners „Tannhäuser“ 2017 in lebhafter Erinnerung. Castellucci hatte bereits mehrmals Wagner inszeniert, sein Brüsseler „Parsifal“ aus dem Jahr 2011 wurde einerseits von Reinhard J. Brembeck/SZ als radikal, faszinierend und „auf heutige spirituelle Bedürfnisse zugeschnitten“, beschrieben, andererseits schreibt Claus Spahn/Zeit von einem „surrealen Alptraum“. Die Münchner Inszenierung des „Tannhäuser“ unter der musikalischen Leitung von Kirill Petrenko bezeichnet Han Brachmann/FAZ als „übersubventionierter Münchner Murks“, während Reinhard J.Brembeck/SZ schwärmt: „ Castellucci träumt, intensiv und genau auf die Musik hörend, den ‚Tannhäuser‘ aus der Perspektive des Titelhelden“.
2015 wird an der Berliner Schaubühne „Ödipus der Tyrann“ nach Sophokles und Hölderlin vor einer Frauenkloster Kulisse aufgeführt. Auch hier prallen die Meinungen aufeinander. „Für Castelluccis symbolschwangere und mit heiligem Ernst zelebrierte tableux vivants über Verdrängung, Schuld und Sühne, für die minimalistischen Bewegungen, in denen noch der kleinste Finger tonnenweise Bedeutung suggeriert, braucht man natürlich auch einen langen Atem. Außerdem ist ein Sinn für unfreiwillige Komik hilfreich“, meint Christine Wahl/Tagesspiegel. Simone Kaempf/ Nachtkritik urteilt hingegen: „Man nimmt Castellucci die Faszination ab für die Frauenbilder aus Antike und Christentum, aber er zelebriert sie verdammt statuarisch und feierlich, ohne Kraft daraus zu gewinnen.“
Romeo Castelucci wurde 2013 von der Biennale in Venedig mit dem goldenen Löwen für sein Lebenswerk ausgezeichnet, da er die Fähigkeit habe „eine neue Sprache für die Bühne zu schaffen, die Theater, Musik und Bildhauerei ineinander verwebt“, unter anderen für sein unheimlichstes Werk „The Parthenon Metopes“. Der Name bezieht sich auf die ursprünglich 92 Marmortafeln mit mystischen Kampszenen des Parthenon, dem Tempel der Pallas Athena auf der Athener Akropolis. Bei dieser Performance, welche europaweit aufgeführt wurde, sehen die Zuschauer in großen kalten Betonhallen die Darstellung des Leidens und Sterbens der Opfer eines fiktiven Unfalls. Was passiert war, bleibt unklar, ein Verkehrsunfall, ein Selbstmord-Attentat, eine Explosion? In sechs Episoden erlebt der fassungslose Zuschauer einen wahren Horror. Schwer verletzte Menschen schreien um Hilfe, stöhnen, röcheln, wälzen sich in ihrem Blut. Entsetzt erkennt ein Opfer, dass ihm eben ein Bein abgerissen wurde, einem anderen Opfer quellen die Gedärme aus dem aufgerissenen Bauch. Authentische Krankenwagen und Sanitäter kommen an, legen Infusionen, beatmen, verbinden, transportieren die Sterbenden, die Leichen ab. Auch das Bilder, wie wir sie tagtäglich am TV- Schirm sehen.
Castellucci beschäftigt sich intensiv mit der Psychoanalyse. Seine Inszenierungen lassen das Publikum nicht nur geschockten Voyeur sein, ihm gelingt es die Psyche des Einzelnen anzusprechen, Archetypen wie sie in jedem Menschen verankert sind.
AUSZEICHNUNGEN
- Best Opera Director (Opernwelt magazine, 2014)
- The Golden Lion for Lifetime Achievement
(La Biennale Teatro di Venezia; 2013) - Honoris Causa (Università di Bologna, 2014)
- Knight of the Order of Arts and Letters by the
Ministry of Culture of the French Republic (2002) - Prize for Best International Production for Genesi.
From the Museum of Sleep (Dublin Theatre Festival, 2000) - Ubu Prize (1997, 2000, 2004, and 2006 with special distinction)
- Masque d’Or Prize for best foreign play for Orestea (una commedia organica?)
(Festival Theatre des Ameriques in Canada, 1996).