Interview mit Stefano Boeri
WIR TREFFEN DEN ARCHITEKTEN STEFANO BOERI IN DER TRIENNALE IN MAILAND ZU EINEM INSPIRIERENDEN GESPRÄCH ÜBER EIN HAUS FÜR BÄUME, FLIEGENDE GÄRTNER, DAS LEBEN AUF DEM MARS, DIE SCHULE DES MISSERFOLGS, DIE BEDEUTUNG VON DESIGN UND EINER ARCHITEKTUR, DIE DEM KUNSTSCHAFFEN EINEN EIGENEN RAUM BIETET.
Woher stammt die sensationelle Idee zum Bosco Verticale, dem Senkrechten Wald? Etwa aus Ihrer persönlichen Erfahrung in einer verschmutzten Großstadt wie Mailand, oder eher aus Ihrer Bindung an Mutter Natur?
Die Idee zum Bau eines mit Bäumen verkleideten Wohnturms entstand Anfang 2006 in Dubai, wo ich als Leiter von Domus die rasante Entwicklung einer Wüstenstadt mit ihren Dutzenden neuen Wolkenkratzern miterlebte. Allesamt waren mit Glas, Keramik oder Metall verkleidet, reflektierten also das Sonnenlicht und generierten dadurch Wärme. Ich war mit der Planung zweier Wohntürme mitten in Mailand beauftragt und hatte die Idee zu einem Öko-Bauprojekt, dessen Fassade nicht aus Mineralstoffen, sondern aus lebender Natur bestehen sollte. Mehr als 800 Bäume und 21.000 andere Pflanzen bedecken die beiden Türme des ersten Bosco Verticale: Damit gedeihen im Herzen der Stadt auf einer Fläche von wenigen hundert Quadratmetern ganze 3 Hektar Wald. Der Grundgedanke war, Pflanzen in die Architektur zu integrieren – und zwar nicht bloß als Ornament, sondern als richtiggehendes Bauelement. Bosco Verticale ist ein Haus für Bäume, in dem auch Menschen wohnen.
Wie wurde der Senkrechte Wald aus technischer Sicht umgesetzt? Gibt es erwiesene Auswirkungen auf die Umwelt, und wie intensiv ist die erforderliche Wartung?
Die Bäume und Pflanzen nutzen das in der Luft vorhandene CO2 als Düngemittel und nehmen Feinstaub und Schmutz aus der Luft auf: Damit leisten sie in Stadtgebieten einen wesentlichen Beitrag gegen die Auswirkungen des Klimawandels sowie zur Verbesserung der Luft und der Lebensqualität. Was die Umweltauswirkungen betrifft, so produzieren die Bäume des Bosco Verticale pro Jahr rund 18 Tonnen Sauerstoff und nehmen an die 30 Tonnen Kohlendioxid auf. Die Auswahl der Pflanzen für die senkrechten Gärten ging folgendermaßen vonstatten: Es wurden rund 100 unterschiedliche Arten selektiert, zwei Jahre lang in einer Pflanzenschule in geeigneten Töpfen gezogen und schließlich einzeln auf die Balkons des Senkrechten Waldes befördert. Die Verwurzelung der Bäume in den Töpfen wurde in einem Windkanal in Florida getestet, umsicherzustellen, dass sie auch starken Windstößen standhalten. Wir betrachten alle Elemente der Flora – Pflanzen, Sträucher, Bäume etc. – als Vorteil und Wohltat für die Bewohner, weshalb ein eigenes Expertenteam mit ihrer Pflege beauftragt wurde: Die „fliegenden Gärtner“ seilen sich zweimal pro Jahr an den Wänden der Hochhäuser ab und kümmern sich um die Pflanzen. Damit wird professionelle Arbeit, einheitliche Pflege und – nicht zuletzt – auch eine erhebliche Reduzierung der Instandhaltungskosten im Vergleich zur Pflanzenpflege durch die einzelnen Hausbewohner erreicht.
Was für Feedback bekommen Sie von Bewohnern und Nutzern der Senkrechten Wälder?
Die Rückmeldungen sind ausgezeichnet. Die Bewohner des Mailänder Bosco Verticale gleich wie andere Bürger oder Touristen, die sich Tag für Tag in der Umgebung aufhalten, erkennen die Vorteile eines regelrechten Waldes im Herzen der Stadt unmittelbar – sowohl hinsichtlich des Mikroklimas und der geringeren Feuchtigkeit, als auch auf psychologischer Ebene aufgrund der bedeutenden positiven Wirkung auf das geistige und körperliche Wohlbefinden der Bewohner.
Wie kommt Ihre Philosophie der Architektur in Italien an? Stößt Sie Ihrer Meinung nach auf ausreichendes Verständnis?
Wir kombinieren lebendige Natur und Architektur und betrachten die Pflanzenwelt wie ein Volk, dessen Bestandteile – dies gilt besonders für Bäume – denselben Respekt verdienen, der einem Bewohner zukommt. Der Senkrechte Wald ist nur eine von vielen Methoden, mit denen wir die städtische Begrünung weltweit vorantreiben können. Von Kanada bis Australien und von Japan bis Nordeuropa werden mittels kontrollierter und zertifizierter Forstwirtschaft ständig neue Experimente zur Einführung neuer Grünzonen in Städten gestartet. Italien hinkt in diesem Bereich zwar etwas hinter anderen Ländern nach, aber das Bewusstsein um die Notwendigkeit einer besseren Integration der Natur in unseren Städten wächst unaufhaltsam.

Diversity unterscheidet die Stadt von dem, was ich „Anti-Stadt“ nenne, nämlich von der einheitlichen Enklave, arm an menschlicher Interaktion.
Ende 2017 haben Sie einige Projekte für den Bau von Kolonien auf dem Mars veröffentlicht. Ist das eine realistische Idee, oder handelt es sich um reine Utopie?
Das Projekt Seeds on Mars will zugleich eine Provokation und eine dystopische Antwort auf eine heute nicht mehr zu leugnende Frage sein. Wenn wir den Klimawandel und seine verheerenden Auswirkungen auf unseren Planeten – allen voran das Ansteigen der Meeresspiegel – nicht abwenden können, ist eine der wenigen möglichen Lösungen das Leben auf dem Mars, der von den Planeten in unserer Nähe als der bewohnbarste gilt. Daher stammt die Idee, die in Zusammenarbeit mit dem Future City Lab der Tonjii University in Schanghai ausgearbeitet wurde: Auf der Oberfläche des roten Planeten sollen Pflanzenkapseln abgelegt werden, die den Spezies der Erde das Leben dort ermöglichen.
Schätzungen der Vereinten Nationen zufolge wird die Weltbevölkerung bis zum Jahr 2100 auf über 11 Mrd. Menschen anwachsen, von denen 75% in Städten leben werden. Wie könnten die Städte der Zukunft aussehen, wenn wir uns vor Augen halten, dass sie von 7 Mrd. Menschen bewohnt werden?
Das hängt ganz von uns ab. Wir stehen vor einer Reihe endgültiger Entscheidungen und haben äußerst wenig Zeit. Ganze 70% des CO2 in unserer Atmosphäre werden eben in Städten produziert – und gerade Städte werden das Bild unserer Erdoberfläche immer stärker bestimmen. Die unaufhaltsam und unkontrolliert schrumpfenden Wälder hingegen können lediglich 40% des Kohlendioxids aufnehmen. Eine radikale Aufstockung der Waldflächen in Städten ist daher einer der wirksamsten Ansätze zur Bekämpfung des Klimawandels an der Wurzel. Selbstverständlich handelt es sich dabei nicht um die einzige Lösung, wohl aber um eine Grundfrage, die wir nicht außer Acht lassen dürfen.
Kürzlich war zu lesen, dass Sie 24-Stunden-Schulen in Tirana planen. Worum handelt es sich dabei?
Wir haben für Tirana drei neue Schulen entworfen und dabei die Gebäude als Räumlichkeiten für die lokale Gemeinschaft konzipiert. Meiner Meinung nach sollten öffentliche Schulen Orte sein, die rund um die Uhr und an jedem Tag im Jahr aktiv und für alle Altersklassen zugänglich sind. Die neuen Schulen bieten allen Vereine, die keinen eigenen Sitz haben, Platz für Treffen, Diskussion und Dialog. Wer einen Raum braucht, in dem ein soziales oder kulturelles Projekt entstehen soll, ist hier bestens aufgehoben. Hier sollen Lesezirkel, Kurse und Workshops organisiert werden – kurz, die Schule steht der gesamten Bevölkerung zu Verfügung und soll letztlich zu einem regelrechten Hub für sanfte und nachhaltige Mobilität werden. An eben diesem Aspekt arbeiten wir auch in anderen Städten.
Inwiefern kann Architektur zur Entwicklung der Gesellschaft im Allgemeinen beitragen?
Ich mag Architektur, die Rücksicht auf die Umgebung und ihre Geschichte nimmt, aber dennoch bewusst das Risiko eines kreativen Bruchs eingeht – möglicherweise mit einer Prise Ironie und einem Sinn für Gegensätze. Ich glaube an Architektur, die sich nicht nur mit kurzfristigen Lösungen zufrieden gibt, sondern versucht, auch die zukünftige Entwicklung gegenwärtiger Probleme vorherzusehen, wenngleich sie dabei vielleicht nicht immer den Erwartungen von Auftraggeber und öffentlicher Meinung entspricht.
Welches war das bisher aufregendste Ihrer Projekte?
Auf den Polo del Gusto in Amatrice sind wir besonders stolz: Wir haben innerhalb weniger Monate nach dem schrecklichen Erdbeben im August 2016 einen Platz geschaffen, an dem typische Produkte verkostet werden können, an dem Menschen aufeinandertreffen, miteinander spielen oder einfach Zeit in Gesellschaft verbringen und dabei einen wunderbaren Ausblick auf die Berge genießen können. Im Polo befinden sich eine Schulmensa sowie acht Restaurants, die vor dem Beben ein Bezugspunkt für die lokale Gastronomie gewesen waren. Heute arbeiten dort mehr als 100 Bürgerinnen und Bürger von Amatrice – der Ort ist gewissermaßen ein neuer Startpunkt für die Wirtschaft des Gebiets.
Können Sie uns etwas darüber erzählen, wie die privaten vier Wände des Architekten Stefano Boeri aussehen?
Ich mag die Vorstellung, an zwei Orten zu wohnen: In Mailand, wo ich lebe und arbeite, und auf Sardinien, auf der Isola della Maddalena. Die Wohnung in Mailand liegt auf derselben Etage wie mein Studio und ist damit auch meine kreative Werkstatt, die ich mit meinen Mitarbeitern, mit Freunden und Familie teile. Auf Maddalena hingegenfinde ich in dem Haus, das meine Mutter Cini in den 1960er Jahren entworfen hat, meine tiefe Verbindung mit dem Meer wieder – darauf würde ich niemals verzichten.
Für einige Architekten ist die Planung selbst die Arbeit, andere wiederum legen den Schwerpunkt auf die Umsetzung, also auf den Bau. Wie stehen Sie dazu?
Manchmal sind die interessantesten Projekte gerade jene, die gescheitert sind oder aus dem einen oder anderen Grund nie umgesetzt oder abgeschlossen wurden. Das liegt wohl daran, dass man aus dem Scheitern so viel mehr lernt als aus Erfolgen: Das Verständnis der Gründe und Mängel und die Suche nach Lösungen durch die ständige Auseinandersetzung mit der eigenen Arbeit sind Grundpfeiler dessen, was ich die „Schule des Misserfolgs“ nenne. Eine solche Schule gibt es bis heute in der Architektur nicht. Das mag daran liegen, dass es vielen Architekten schwerfällt, ihr Bild von sich selbst als Helden auf einer epischen Laufbahn in Frage zu stellen.
Kunst und Architektur: Wozu führt Ihrer Meinung nach das Aufeinandertreffen dieser Welten?
Zu allem und zu nichts. Architektur, die sich als Kunst betrachtet, ist häufig schlecht. Die künstlerische Seite ist niemals das Produkt einer bewussten Entscheidung. Andererseits ist Kunst heutzutage ein Mischbereich, den man kaum eingrenzen kann. Ich halte mich da lieber an Architektur, die dem Kunstschaffen einen eigenen Raum bieten will, wie zum Beispiel der Palazzo delle Arti, den Alberto Muzio 1933 in Mailand als Sitz der Triennale schuf: Solide, aber unglaublich flexible Architektur mit einer schweren Hülle, die aber Tag für Tag von den unvorhersehbaren Trends der Kunstwelt gestaltet wird.
Unsere aktuelle Ausgabe behandelt das Thema DIVERSITY: Was verbinden Sie mit diesem Begriff?
Diversität ist für mich ein grundlegender Teil der Entstehung von Städten: Die Vielfalt der Nutzung, der Wohnkultur, des Austausches und der Beziehungen inmitten eines dicht bebauten Raums unterscheidet die Stadt von dem, was ich „Anti-Stadt“ nenne, nämlich von der einheitlichen, verwässerten Enklave, einem weiten städtischen Raum, der aber arm an menschlicher Interaktion ist. Dieselbe Überlegung kann man auch für das Konzept der Biodiversität anstellen, nämlich auf die notwendige und vielfältige Koexistenz und gemeinsame Nutzung unserer Städte durch Lebewesen – Pflanzen, Tiere und Menschen. Aber das ist wohl eine andere Geschichte.
Design ist so angesagt wie noch nie, und in aller Welt spricht man von „digital design“, „service design“ und „process design“. Was bedeutet Design für Sie, und welche Rolle spielt es in Ihrem Schaffen?
Ich denke, Design ist im Wesentlichen das Aufeinandertreffen dreier großer Kräfte: Die Kreativität der Planer (Künstler, Architekten oder Designer), der technische Standard der Unternehmen und die Nachfrage an neuen Räumen und Nutzungsmöglichkeiten. Wann immer Kunst, Unternehmergeist und die Anforderungen der Gesellschaft sich überschneiden, wird Design zur Antwort auf tatsächliche Bedürfnisse und gleichzeitig zum Schlüssel, der einen potentiell unendlichen Kreislauf für neue Fragen erschließt. In diesem Sinn macht es wenig Unterschied, ob wir von digitalem, physischem, Produktoder Servicedesign sprechen. Dennoch bin ich überzeugt davon, dass wahres Design eigentlich der Entwurf und die Herstellung von Utensilien und Werkzeugen mit hohem Symbolwert ist.