Wissenschaft und Technik dringen in den Menschen ein
Digitalisierung, künstliche Intelligenz, Algorithmen, Körperoptimierung, Augmented Reality und Roboterisierung…all das hat längst Einzug in unseren Alltag gehalten. Über 98 Prozent unserer Entwicklungsgeschichte lebten wir als fellbehangene Steinzeitmenschen in primitiven Hütten. Dann schufen wir Hochkulturen, entwickelten Maschinen und bauten Fabriken, begannen Forschung und Medizin zu betreiben. Heute verpflanzen wir Organe, implantieren künstliche Gliedmaßen und werden teilweise bereits durch Nanochips im Körper gesteuert. Über 95 Prozent aller Spezies, die bislang die Erde bevölkert haben, existieren inzwischen nicht mehr. Es ist unwahrscheinlich, dass der Mensch eine Ausnahme darstellt. Kann die Technologie dazu beitragen, die Existenz des Homo Sapiens zu verlängern, oder gar auf eine höhere Stufe zu heben?
Sicher ist, dass wir uns auf dem Weg von der Mensch-Technik-Interaktion zur Mensch-Technik-Konvergenz befinden. Dazu trägt ein Teil des Medizinsektors bei, der sich immer weniger um das Heilen des kranken, sondern um das Verbessern des gesunden Körpers kümmern will und darin das grosse Geschäft der Zukunft erkennt: human enhancement, die Perfektionierung des menschlichen Körpers und Geistes durch hochentwickelte Prothesen und Implantate. Die Verbesserung des Menschen strebt einen „Transhumanismus“ an: ein um jeden Preis „über den bisherigen Menschen hinausgehen“, weil dessen Evolution sowohl von Medizinern wie Wirtschaftsführern ohne technologische Auf- und Umrüstung des Menschen zum Cyborg in einer Sackgasse gesehen wird.
Kunst hat diese Entwicklung zur Technisierung des Menschen und zur Entstehung eines Maschinenmenschen bereits seit Jahren vorausgesehen. So etwa in den Werken des Künstlers Stelarc, der bereits seit Jahrzehnten mit technologischer Aufrüstung am eigenen Körper experimentiert und damit früh die heutige Bodyhacker-Kultur vorweggenommen hat – also eine Kultur, die den eigenen Körper zum Experimentierfeld von Technologie macht. Ähnlich der weltweit erste staatlich anerkannte Cyborg, Neil Harbisson, der seine technologische Aufrüstung mittels einer mit seinem Wahrnehmungsapparat direkt verbundenen Antenne als „realistischere Kunst“ nicht mehr nur am, sondern im eigenen Körper und Ich betrachtet. Er wurde farbenblind geboren und kann nun mittels Technologie nach eigener Aussage Farben hören. Ziel von Harbisson, seiner globalen „Cyborg Foundation“ und globalen Zusammenschlüssen einflussreicher Philanthropen und Wirtschafts- und Finanzführern – wie etwa dem „Globalen Zukunftskongress 2045“, der sich im März 2013 mit einem offenen Brief an den damaligen UN-Generalsekretär Ban Ki-moon wandte -, ist es, die ganze Welt an der Entwicklung zum Maschinenmenschen teilhaben zu lassen. Sie fordern Wirtschaft und Politik weltweit auf, einen Großteil der Gelder in diese Option zu stecken. Denn nur der Maschinenmensch mit erweiterten körperlichen und kognitiven Möglichkeiten werde in der Lage sein, endlich Frieden zu schaffen, die Umwelt zu retten und den Kosmos zu ergründen.
Technik verschmilzt derzeit jedenfalls immer stärker direkt mit dem Menschen, und sie berührt dabei immer tiefgehender sein Innerstes. So etwa mittels der heute bereits standardmäßig einsetzbaren Gehirn-Computer-Direktverbindungen (Brain-Computer-interfaces, BBIs) und Gehirn-Maschine-Verbindungen (BMIs), die seit Februar 2019 nun auch um Gehirn-Gehirn-Verbindungen (BBIs) sowie um Pläne zu Gehirn-Cloud-Verbindungen (B/Cis) ergänzt werden. Bei den Gehirn-Gehirn-Verbindungen wurde das Gehirn eines Menschen von chinesischen Wissenschaftlern mit dem eines Ratten-Cyborgs verschaltet, sodass der Mensch mit seinen Gedanken die Ratte steuern konnte, wie das renommierte Fachjournal Nature in seiner Februar-Ausgabe 2019 berichtete. Das Experiment baute auf vorhergehende Versuche der Universitäten Washington und Harvard auf. Die Frage ist, was solche neuen Möglichkeiten der „Gedankenkontrolle“ („mind control“) anderer Wesen bewirken können, und wie lange es dauert, bis sie auf den Menschen angewandt werden. Damit sind völlig neue ethische, juridische und praktische Herausforderungen verbunden, denen sich die in der Globalisierung immer stärker kommerzialisierte und ästhetisierte Kunst bisher viel zu wenig zugewandt hat.

Grundlegende Fragen gehen mit diesen neuen Entwicklungen am Schnittpunkt zwischen Mensch und Technologie einher – und beschäftigen inzwischen bereits einen Großteil der Menschheit: Was bedeutet die rasant fortschreitende technologische Entwicklung konkret für die Zukunft von menschlichem Körper und Geist, wenn beide technisiert werden? – Welche Auswirkungen hat dies auf Selbstverständnis und Praxis von Kunst, die in den Visionen der großen Technologieriesen der Welt in den kommenden Jahren wieder immer mehr zu ihren Ursprüngen als téchne, also zur Technik im Sinne eines hochentwickelten nützlichen „Menschen-Gestells“ zurückkehrt? Was bedeutet das für die Demokratie, den Rechtsstaat und die Zivilgesellschaft? – Können wir unserer eigenen Wahrnehmung, unseren Sinnesorganen noch trauen? – Wird der Mensch künftig zum Intelligenzspender für die Maschine degradiert, bis diese ihm an Intelligenz, Effizienz und anderen Eigenschaften überlegen ist? – Wird der Maschinenmensch des „Transhumanismus“ mit Künstlicher Intelligenz kommunizieren, sie in sich oder sich in sie integrieren, oder sich gar – mit ihrer Hilfe – einer Überintelligenz (superintelligence) annähern können, wie dies etwa der Direktor des bislang einzigen Zukunft der Menschheit Instituts an der Universität Oxford, Nick Bostrom, erwartet? Nicht zufällig sieht Bostrom in seinem Buch „Superintelligenz“ aus dem Jahr 2014 die Menschheit durch diese Entwicklung auch in ihrer Substanz bedroht, da sich eine Künstliche Intelligenz, die zur Superintelligenz würde, was viele für die Jahrhundertmitte erwarten, gegen den Menschen wenden könnte, weil er der einzige ist, der ihr „den Stecker ziehen kann“.
Was bedeutet es für unser Leben, wenn die größten Konzerne der Welt, z.B. der Google-Überbau Alphabet mit seiner Tochter Calico, intensiv an einer Human-Biotechnologie forschen, um so die nächst höhere Stufe der menschlichen Evolution erreichen zu können – oder gar die menschliche Unsterblichkeit, wie Google 2013 ausdrücklich als Jahrhundert-Ziel bekannt gab, das seitdem mit Milliardeninvestitionen angestrebt wird? Erstaunt fragte damals das Time Magazine: Kann Google den Tod besiegen? Und was bedeutet das für die Menschen? Werden sie dadurch moralisch besser – oder werden sie eher „böse“, weil es keinen Maßstab der Endlichkeit mehr gibt? – Wie gehen wir damit um, dass Künstliche Intelligenzen inzwischen eine bessere medizinische Diagnostik vornehmen können als viele Fachärzte? – Was bedeutet es für die Gesellschaft, wenn in den kommenden Jahrzehnten Algorithmen wie Googles Alexa sich weiterentwickeln und immer mehr praktische Aufgaben übernehmen – und dabei mehr als 50% der Arbeitsplätze verloren gehen?

Wir sollten uns hüten, die Entwicklung zu unterschätzen, denn sie berührt den Kern bisherigen Menschseins in einer Weise, die bislang in der menschlichen Geschichte noch nicht möglich war. Kunst muss stärker als bisher versuchen, diese Entwicklung zu thematisieren und Bewusstsein zu schaffen, was wichtiger ist, als vorschnelle Antworten darauf zu geben – also eine eminent künstlerische Aufgabe. Auf der anderen Seite sollte uns aber auch nicht die Angst leiten, und wir sollten die Entwicklung nicht verteufeln – ganz im Gegenteil. Namhafte Wissenschaftler prophezeien immer wieder das Ende der Menschheit und der Erde durch Veränderungen unseres Sonnensystems oder Asteroiden. Ist der Mensch nur durch Technologie am oder gar im eigenen Körper sowie allgemein durch die technologische Umwertung des Erden-Seins in der Lage, dem Stand zu halten? Und wäre das dann eher Technik, Kunst oder téchne? Oder werden sich Kunst und Technologie in den kommenden Jahren völlig neu verbinden, das eine in das andere übergehen, so wie es sich Apple (Steve Jobs, Steve Wozniack) oder Yahoo seit jeher wünschten? Dann bliebe die Kunst, wie wir sie bisher kennen, nur noch als Nische und Kuriosität übrig – und natürlich als Luxushandelsware, zu der sie in der neoliberalen Globalisierung bereits größtenteils geworden ist.
Sicher ist: Die aktuellen und die daraus hervorgehenden Entwicklungen werden Mensch, Arbeit, Umwelt und Gesellschaft grundlegend verändern. Kann uns die Technik helfen, unsere Einschränkungen zu überwinden – ohne uns zu schaden, irreversibel umzubauen oder gar zu vernichten? Oder ist sie Konkurrenz und Bedrohung für uns? Wie können wir technische Entwicklungen kontrollieren – und wie wird sich letztlich die Spezies Mensch weiterentwickeln, da ihr ja ein Stillstand nie möglich war? Das Centre for the Study of Existential Risk der Universität Cambridge sieht die Menschheit ganz konkret vom Aussterben bedroht, wenn nicht bestimmte Risiken berücksichtigt und vermieden werden. „Wenn nicht die Fortschritte in Technik und Naturwissenschaft genutzt werden, wird die Menschheit das Ende dieses Jahrhunderts nicht mehr erreichen“, so die Forscher. Macht das die Technik – buchstäblich – zum „neuen Gott“, wie es Post-Humanisten wie Martin Heidegger bereits in den 1960er Jahren voraussagten?
Die darwinsche Selektion gilt heute nur noch eingeschränkt für den Menschen. Wir halten Menschen künstlich am Leben und verändern dieses Leben mit neuen Lebenswissenschaften. Wenn eine Selektion stattfindet, dann ist sie künstlich und sozusagen geplant. In absehbarer Zukunft könnte es möglich sein, durch Genmanipulation den Körper und die Persönlichkeit von Menschen zu verändern, und das wird eines der großen Themen der kommenden Jahre sein (Stichwort Crispr-Schere zur „Zurechtschneidung“ individueller DNA).
Laut Google und anderen „großen Spielern“ wird der Mensch vermutlich ab 2050 seine biologischen Begrenzungen (Krankheit, Tod, existentielles Risiko, Unwägbarkeit des Lebens etc.) mithilfe der Technik stark reduzieren. Diese technologische Revolution wird die Menschheit für immer verändern. Dazu kommt: Die innere Expansion der Möglichkeiten des menschlichen Lebens durch Verschmelzung mit Technologie wird durch die äußere Expansion in den Weltraum ergänzt. Neue Lebensräume im Universum werden derzeit intensiv und mit großen Investitionen erforscht, um neue Lebensräume für den technologisch optimierten neuen Homo Sapiens bereit zu stellen. Siehe etwa die Mars-Missionen von USA, China und Indien, die neuen Mondmissionen, der Beginn des „asteroid mining“, also des Ressourcenabbaus im All durch private Firmen wie Elon Musks „Space X“ Unternehmen oder das Nasa-Erkundungsprojekt „Kepler“.
Zusammenfassend ist Transhumanismus ein inzwischen weltweit Fahrt aufnehmender Ansatz, den Menschen durch Verschmelzung mit Technologie zu „verbessern“. Ziel ist es, den menschlichen Körper und Geist technologisch aufzurüsten, um über das bisherige Menschsein hinauszugehen – in einen „höheren“ Menschen hinein. Dieser „neue Mensch“ soll in Form einer „neuen Menschheit“ (neo-humanity) länger leben, gesünder sein und über neue geistige Fähigkeiten verfügen, womit in den Augen der Propagatoren auch Religion technologisch konkretisiert und realisiert wird. Und vielleicht soll er sogar bald unsterblich werden. Transhumanismus gründet heute politische Parteien weltweit darunter etwa die Transhumanistische Partei der USA, die mit Spitzenkandidat Zoltan Istvan 2015–16 gegen Donald Trump um das Präsidentenamt konkurrierte. Diese Parteien wollen die Politik davon überzeugen, dass nur die Umwandlung des Menschen zum Cyborg und die gleichzeitige Vermenschlichung der Maschine in Gestalt menschenähnlicher, heute äußerlich wegen besserer Akzeptanz meist „weiblicher“ KI-Roboter in die Zukunft weisen. Weil es hier buchstäblich um nicht weniger das Schicksal des Menschseins geht, sind wir alle aufgerufen, dazu eine Meinung zu bilden. Allerdings wissen viele Bürger wegen fehlender Medienabdeckung nicht, was heute schon möglich ist und auch bereits gemacht wird.
Doch der Mensch wird heute schon umgebaut – während Technologie immer „menschlicher“ wird. Und zwar bis in den Bereich der wohl menschlichsten Fähigkeiten hinein: jene der Kreativität und der Ästhetik. Künstliche Kreativität wird laut Google mittlerweile in Geräte eingebaut. Googles KI kann – in Supercomputern umgesetzt – Texte angeblich bereits besser übersetzen als Menschen. Sie kann – und soll laut den Befürwortern – Texte aussuchen aus dem Wust an „Internet-Material“ und also Informationen nun auch im Bereich ernster Wissensakkumulation und Erkenntnis vorfiltern. KI kann laut Apple und Google auch bereits Musik komponieren und Texte schreiben. Und Googles KI kann laut Darstellung des Konzerns vom Herbst 2019 bereits ästhetische Gefühle vorhersagen mit 80%iger Wahrscheinlichkeit – also voraussagen, ob ein Kunstwerk gefallen wird oder nicht. Dann wäre es nur noch ein kleiner Schritt, bis KI „eigenständig“ Kunst herstellt, die möglichst vielen Menschen gefällt. Aber wird das dann überhaupt noch Kunst sein, oder eine hochentwickelte Rechenkunst verbunden mit psychologischem Reduktionismus und Manipulation? Vielleicht wird solche KI-Kunst eine Zeitlang gut verkäuflich sein. Sie vermisst aber jeden progressiven Aspekt, von erzieherisch und vertiefend ganz zu schweigen. Viele Künstler sind überzeugt, dass selbst wenn es gelingt, dass Technologie als Akteurin in den Kunstbetrieb einsteigt, dieser Effekt einer „ästhetischen Gefallenskunst“ nicht lange anhalten wird. Denn die Menschen werden dann irgendwann dagegen rebellieren, weil sie mehr von Kunst erwarten als Gefallen, sei es nun instinktiv oder explizit. Sie werden das Nicht-Menschliche früher oder später als störend empfinden im Bereich der Kunst – außer, Kunst ist dann bereits so technologisch oder die Menschen der Technologie bereits so bewusstseinsindustriell angeglichen, dass sie ihr Unbehagen überspielen, ohne es zu wissen. Einige Symptome zeigen bereits in die Gegenperspektive – zumindest in Europa. So wurde es Künstlicher Intelligenz in Deutschland im Januar 2020 untersagt, Patente zu halten, weil – so der Entscheid – nur Menschen Erfinder sein können. Nicht dazugesagt wurde allerdings, wie lange das noch so sein wird.
WO LIEGT DIE PERSPEKTIVE?
Transhumanismus ist ein bislang offen und in manchen Aspekten spekulativ bleibender Prozess, der in manchen Elementen viele Eigenschaften von Kunst aufweist oder aufweisen könnte. Auch Kunst ist schließlich ihrem Wesen nach eine Technik, die sich im Kern auf den Menschen bezieht und diesen – im besten Fall – weiterentwickelt. Kunst hatte immer mit Können zu tun und war nie so weit vom „homo faber“ entfernt, der heute den Transhumanismus auf die Technisierung des und das Basteln am menschlichen Körper ausdehnt, wie ihre „postmodernen“ Formen und Vertreter behaupteten. Kunst und Technologie haben beide ihren Ursprung im Menschen, und beide kehren von außen in den Menschen zurück, beschreiben also eine Elipse vom Menschen über die materielle Veräußerlichung in den Menschen zurück. Daher darf sich Kunst auch anmaßen, wegen ihrer Verwandtschaft zur Technologie sich in den Transhumanismus einzumischen – und diesen kritisch zu begleiten. Diese Auseinandersetzung hat gerade erst begonnen, und sie bietet viele Chancen und Aktivitätsfelder vor allem für experimentelle Kunst, die ihren humanistischen Auftrag ernst nimmt und sich nicht nur in Kommerz erschöpft.
Die Herausforderung nimmt allerdings quantitativ und qualitativ zu. Sie erfordert, dass Kunst wieder stärker in die Gesellschaft zurückkehrt und sich kreativ den Realitäten eines im Wandel begriffenen Menschseins zuwendet. Wie die Wissenschaft ist auch die heutige Kunst mehr denn je dafür verantwortlich, sicherzustellen, dass die besten Forschungsergebnisse im Gesellschaftsprozess unter neuen ethischen Maßstäben eingebracht werden. Kunst hat aber auch zunehmend die Aufgabe, sich mit menschengefährdenden Entwicklung am Schnittpunkt zwischen Mensch und Technologie warnend und mit Verbesserungsvorschlägen auseinanderzusetzen. Dabei geht es nicht um fertige Lösungskonzepte, sondern um Bewusstseinsbildung.
