Reihe: Wissenschaft an der Kunstgrenze, Teil 8
Herausgegeben von Roland Benedikter, Center for Advanced Studies von Eurac Research
Der Granatapfel steht wie keine andere Frucht als zweifelhaftes Symbol für Weiblichkeit und die damit verbundenen Tugenden, Wertehaltungen und Zuschreibungen. Über Jahrhunderte hinweg hielten Frauenfiguren in Kunst und Literatur den Granatapfel in Händen. Zeit, ihn loszuwerden. Aphrodite, Demeter, Hestia und Hera: Die stayinart Edition 2022 widmet sich den griechischen Göttinnen. Betrachten wir die Ikonographie der genannten Frauen, so kann einiges daraus geschlossen werden. Denn Kunst kann der Gesellschaft nicht nur Spiegel, sondern auch Wiege sein, und als solche verkörpert sie neben Gefühlen, Mentalitäten und historischen Ereignissen ihrer Entstehungsepoche nicht selten auch Charakteristika kommender Epochen. Ein Element, das besonders auffällt, ist etwa die Tatsache, dass drei dieser Göttinnen häufig mit dem Granatapfel in Verbindung gebracht werden.
DIE VIELEN BEDEUTUNGEN DES MALUM GRANATUM
Der Granatapfel wird in verschiedenen Kulturen, von China über Indien, dem Nahen Osten bis zum Mittelmeer mit Reichtum, Überfluss und Fruchtbarkeit assoziiert. Das ist darauf zurückzuführen, dass die Frucht so viele Kerne bildet – malum granatum heißt im Lateinischen nichts anderes als mit Kernen versehener Apfel. Interessanterweise werden dem Granatapfel aber auch empfängnisverhütende und abtreibende Eigenschaften zugeschrieben. Kommen wir aber auf unsere Göttinnen zurück: Die Legende besagt, dass Aphrodite, die Göttin der Liebe, diesen »heiligen« Fruchtbaum als Gabe an die Menschheit auf Zypern pflanzen ließ. Der Granatapfel wird außerdem mit Hera, der Göttin der Ehe und der Fruchtbarkeit, in Verbindung gebracht, die in der Ikonographie oft einen Granatapfel hält. Noch prominenter ist die Verknüpfung mit Demeter, der Göttin der Ernte und des Ackerbaus. Die Athener*innen aßen bei den ihr zu Ehren gefeierten Festen Granatapfelkerne, um Fruchtbarkeit und Wohlstand zu erbitten. Diese Tradition wird auf den Mythos der Persephone, der Tochter der Demeter, zurückgeführt, welche von Hades in die Unterwelt entführt wurde. Dort hatte sie auch von Granatapfelkernen gegessen und war fortan zwischen den Welten hin und hergerissen.
In diesem Mythos repräsentiert der Granatapfel den Tod und die Wiedergeburt in ein neues Leben: In den Monaten, in denen Persephone nämlich mit ihrer Mutter auf der Erde weilt, erwacht die Natur und füllt sich mit Leben. In jenen Monaten hingegen, die sie mit ihrem Ehemann in der Unterwelt zubringt, werfen die Bäume ihre Blätter ab und die Welt erstarrt in winterlicher Kälte, was 1den Zyklus der Jahreszeiten erklärt. Einige Fragmente antiker Riten der klassischen Welt sind bis heute erhalten geblieben: Noch immer ist es in Griechenland und der Türkei etwa Brauch, dass junge Bräute bei ihrer Hochzeit einen Granatapfel zu Boden werfen, um zu sehen, wie viele Kerne aus der Frucht fallen. Die Anzahl der Kerne soll dabei einen Hinweis darauf geben, wie viele Kinder das Paar haben wird. Nicht alle antiken Göttinnen werden jedoch mit Fruchtbarkeit assoziiert, wie es sich etwa bei Athena, Artemis und Hestia zeigt. Diese Göttinnen werden sogar in Antithese zur Fruchtbarkeit dargestellt: Als etwa Niobe damit prahlte, zahlreichen Nachwuchs zu haben, schickte Leto ihre einzigen Kinder Artemis – die jungfräuliche Göttin der Jagd – und Apollo aus, Niobes Kinder zu töten. Athena ist ebenfalls Jungfrau, was auf Griechisch parthenos heißt. Aus diesem Grund wird der ihr gewidmete Tempel auf der Akropolis auch Parthenon genannt. Athena wurde nicht von einer Frau geboren, sondern entsprang direkt dem Haupt des Zeus und beide, Artemis und Athena, bestraften jene Männer hart, welche es geschafft hatten, sie nackt zu sehen. So wurde Aktaion von Hunden zerfleischt und Teiresias geblendet. Und schließlich gib es noch Hestia, die Göttin des häuslichen Herdes, ebenfalls eine Jungfrau, wie es auch ihre Priesterinnen, die im alten Rom Vestalinnen genannt wurden, sein mussten.
Wir bleiben in der klassischen Welt, aber wenden uns von der bildenden Kunst hin zur Literatur. In diesem Metier hat sich der Dichter Semonides in aus heutiger Sicht eher zweifelhafter Art und Weise hervorgetan. In seiner berühmten Satire über die Frau, dem so genannten Weiberiambos, spricht er von zehn Kategorien von Frauen. Jede davon vergleicht er mit einem Tier. Schon die Auswahl der Tiere, nämlich Stute, Sau, Äffin oder Hündin, lassen ein wenig schmeichelhaftes Bild erahnen. Von den zehn Kategorien kommt nur eine einigermaßen glimpflich davon: nämlich die Biene, welche sich um den häuslichen Herd und den Nachwuchs kümmert. Wenn also Kunst und Literatur der Spiegel der Gesellschaft sind, entsteht daraus das Bild, dass Frauen über Jahrhunderte hinweg nur in Zusammenhang mit Mutterschaft und Keuschheit als positiv wahrgenommen wurden – am besten war eine Kombination von beidem.
Die katholische Kirche hat es schließlich geschafft, diese zwei sich kontrastierenden Bilder, welche ein ganz offensichtliches Oxymoron bilden – Keuschheit und Mutterschaft –, in der Figur der Madonna, der jungfräulichen Mutter, zusammenzuführen. Viele religiöse Malereien bilden die Madonna mit einem Granatapfel ab – etwa die Madonna Dreyfus und die Madonne della melagrana von Fra Angelico, Filippo Lippi, Sandro Botticelli, Jacopo della Quercia und Hans Holbein. Der Granatapfel ist auch Symbol des Märtyrertums Jesu und repräsentiert in der christlichen Ikonografie, neben Fertilität und Fülle, auch den Glauben und die Einheit der verschiedenen Völker und Kulturen. Aus diesem Grund kann die Frucht auch einem Mann zugeschrieben werden, wenngleich seltener. So geschieht es im Falle des Portraits Kaiser Maximilians I. von Albrecht Dürer, in welchem der Kaiser als Symbol für Einheit und Zusammenhalt einen Granatapfel hält. Die Kerne der Frucht stellen die Untertanen dar, die »Kinder« des Kaisers. Ab der Renaissance befreit sich die Frau von der Darstellung als überlegenes und idealisiertes Wesen – als Göttin, Madonna oder Heilige –, wenngleich der Granatapfel weiterhin mit der weiblichen Ikonografie verbunden ist, wie die Fälle des Felice Casorati und Salvador Dalì noch um 1900 demonstrieren.
DIE FRUCHT DER UNVEREINBARKEIT
Heute ist die Mutterschaft, zumindest in weiten Teilen der westlichen Welt, eine Wahl: Der erleichterte Zugang zu Verhütungsmitteln erlaubt es Frauen, Kinder zu haben, wenn sie wollen und wann sie wollen und Erfüllung in Rollen über die Mutterschaft hinaus zu suchen, etwa im Beruf oder anderen Aktivitäten. Was aber passiert, wenn diese neu gewonnene Freiheit mit einem jahrtausendealten kulturellen Erbe kollidiert? Aktuellen Studien zufolge sticht unter den verschiedenen Motivationsgründen für Frauen, Kinder zu wollen, jener des sozialen Druckes heraus, der Wunsch sich einem vordefinierten Modell häuslichen Glücks anzupassen. Gar einige Menschen sind noch immer der Meinung, dass eine kinderlose Frau »gegen die Natur«, sogar egoistisch ist, etwas, das nur wenige über einen kinderlosen Mann sagen würden. Aber auch die gegenteilige Theorie, dass jene Frauen egoistisch sind, die Kinder wollen, ist immer mehr verbreitet. Die Universität Lund in Schweden hat kürzlich die enormen Umweltkosten berechnet – 58,6 Tonnen Kohlenstoffdioxid pro Jahr – die entstehen, wenn in der westlichen Welt auch nur ein Kind geboren wird. Für viele junge Menschen wird es daher als Akt des Egoismus angesehen, ein Kind in die Welt zu setzen, sei es wegen der daraus anfallenden Umweltverschmutzung, der Erschöpfung der Ressourcen, oder der resultierenden Verschärfung der Armut und Ungleichheit1. Hinzu kommt, dass Frauen allzu oft die Hauptlast der häuslichen Pflegearbeit tragen: Schätzungen zufolge leisten Frauen weltweit jedes Jahr unbezahlte Arbeit im Wert von 10,8 Billionen Dollar, eine Tatsache, die sicherlich nicht dazu einlädt, die zusätzliche Verantwortung für die Geburt und Erziehung von Kindern zu übernehmen. Frauen, die dennoch eine Schwangerschaft anstreben, stehen vor einer zusätzlichen Hürde: In der westlich geprägten Gesellschaft wird die Mutterschaft in der Regel aufgeschoben, was häufig zu größeren Schwierigkeiten bei der Empfängnis und einem höheren Risiko von Fehlgeburten und fötalen Missbildungen führt. Laut einigen Studien leiden Frauen im Gegensatz zu Männern eher unter der Kinderlosigkeit, was sich wiederum in Form von sozialer Isolation, Depressionen, Schuldgefühlen2, Stress3 und einer Verringerung der Lebensqualität äußert. Wie auch das Thema der Fruchtbarkeit, findet das Thema der Unfruchtbarkeit vor allem im weiblichen Ambiente Anklang. Der fehlende Erfolg der Zeugung wird vorwiegend Frauen zugeschrieben, wenngleich seit Jahren statistisch belegt ist, dass die »Verantwortung« dafür, wenn man so will, in gleichen Teilen bei beiden Partner*innen liegt.
NEUINTERPRETATIONEN ALTER SYMBOLE WAGEN
Die Gesellschaft unserer Zeit kennt keine Grautöne mehr: Alles ist schwarz oder weiß. Aber wer sagt, dass alles polarisiert werden muss? Eine eigene Entscheidung in Bezug auf die Fruchtbarkeit, oft auch unfreiwillig getroffen, ist nicht automatisch Kritik an den Entscheidungen anderer. In Deutschland4 und anderen westlichen Ländern hat eine von fünf Frauen keine Kinder. Eine Anzahl, welche genug Konsistenz aufweist, um kaum mehr Aufmerksamkeit zu erregen. Unsere Gesellschaft muss dazu erzogen werden, diese Frauen (und Männer) ohne Urteile und Vorurteile zu betrachten und zu verstehen, dass es ein Grundrecht ist, entscheiden zu können, ob frau/man Kinder möchte oder nicht und dass diese Entscheidung nur zwischen Frauen und ihren Partner*innen gefällt wird. Die Kunst kann und soll dazu beitragen, neue Narrative zu schaffen. Initiativen wie etwa die Fotoserie von Franziska Burkhardt, die die Verwendung des Granatapfels neu kontextualisiert, sind zu begrüßen und wollen aufzeigen, dass Frausein nicht zwangsläufig mit Mutterschaft gleichzusetzen ist. Auch die kürzlich eröffnete Ausstellung »You are not wonderful just because you are a Mother« wirft ein Licht auf weniger traditionelle Aspekte der Mutterschaft, wie Empfängnisschwierigkeiten, Abtreibung und das Gewicht des Urteils Fremder. Denn im Grunde ist die Kunst, wie Berthold Brecht es schon trefflich feststellte, »kein Spiegel, der der Gesellschaft standhält, sondern ein Hammer, mit dem sie geformt werden kann«.