ANISH KAPOOR IM PALAZZO STROZZI

Die Ausstellung »UNTRUE UNREAL« im Palazzo Strozzi in Florenz ist Anish Kapoors Einladung zur Erkundung einer Welt, in der die Grenzen zwischen Wahrheit und Unwahrheit, Realität und Fiktion verschwimmen und sich Türen zur Dimension des Unmöglichen öffnen. Ein Künstler, der ins Unbekannte oder Halbvertraute schaut und dessen Wahrheit im Vertrauen darauf besteht, was er nicht oder nur teilweise kennt. In diesem Sinne bildet das Nichtwahre bzw. Nichtreale seinen Leitfaden und revolutioniert die Vorstellung von Skulptur in der zeitgenössischen Kunst.

Beeindruckend ist die Art und Weise, wie seine Werke ihre Materie überwinden. Pigmente, Stein, Stahl, Wachs und Silikon – um nur einige der Materialien zu nennen, mit denen er arbeitet – werden manipuliert, geschnitzt, poliert, gesättigt und behandelt, wodurch die Grenze zwischen Plastizität und Immaterialität infrage gestellt wird. In Kapoors Werk ist Farbe nicht einfach nur Materie und Ton, diese wird zu einem immersiven Phänomen, das sowohl räumlich als auch illusorisch ist. Sein »Vantablack« – das schwärzer ist als ein Schwarzes Loch und 99,9 Prozent des Lichts absorbieren kann – lässt aufgetragen eine Falte verschwinden, eine der großen Erfindungen in der Malerei der frühen Renaissance. Somit transportiert es das Objekt in die vierte Dimension und trägt es über das Sein hinaus. »Ein Trick, eine Illusion, eine Fiktion.

Ja, aber alle Kunst ist Fiktion. Wie wir wissen, erschaffen Künstler mythologische Entwürfe, keine einfachen Objekte. Ein Objekt über das Sein hinaus zu bringen, ist ein erhabenes Ziel, aber das ist mein Ziel«, sagt der Künstler. Die Werke von Anish Kapoor vereinen leere und volle Räume, absorbierende und reflektierende Oberflächen, geometrische und biomorphe Formen. Sie entziehen sich Kategorisierungen und zeichnen sich durch eine einzig- artige visuelle Sprache aus, die Malerei, Skulptur und architektonische Formen verbindet. Kapoor erforscht Raum und Zeit, das Innere und das Äußere, Dualismen wie Körper und Geist, Natur und Künstlichkeit. »Wir leben in einem Universum der Gegensätze: Tag und Nacht, männlich und weiblich, positiv und negativ, Leben und Tod. Auch unser psychisches Universum besteht, wie wir wissen, aus Gegensätzen. Mein Abenteuer mit dem Objekt hat mich dazu gebracht, zu glauben, dass alle Objekte in einer materiellen/immateriellen Dichotomie existieren«, erklärt er in einem Gespräch mit Kurator Arturo Galansino. Seine Werke erzeugen Staunen und Unruhe, stellen jede Gewissheit infrage und fordern uns auf, die Komplexität zu umarmen. In einer Welt, in der die Realität immer ent- ziehbarer und manipulierbarer erscheint, fordert uns Anish Kapoor heraus, die Wahrheit jenseits der Erscheinungen zu suchen und uns auf das Gebiet des Unwahren und Unwirklichen – des Untrue und Unreal – einzulassen.

Ein Topos unserer Zeit. Die Ausstellung schafft einen originellen und fesseln- den Dialog zwischen der Kunst, der Architektur und dem Publikum. Der Palazzo Strozzi ist symmetrisch, die Abfolge der Räume strukturiert und streng. Eine Ausstellung in diesen Räumen zu realisieren, stellte Anish Kapoor vor eine Herausforderung: »Zu viel Ordnung zerstört die Art und Weise, wie das Werk mit dem Betrachter interagieren kann. Daher war es notwendig, die Reihenfolge der Räume zu unterbrechen, indem die Werke so platziert wurden, dass alternative Wege durch das Gebäude entstehen.« Im Zentrum des Hofes erhebt sich Void Pavilion VII (Der Pavillon der Leere VII, 2023).

Anish Kapoor, Void Pavilion VII, 2023, Mischtechnik, Farbe, 750 × 750 × 750 cm

Ein neues Werk von Anish Kapoor, das speziell für den Hof des Palazzo Strozzi konzipiert wurde. Der große Pavillon dient gleichzeitig als Ausgangs- und Endpunkt im Dialog zwischen Kapoors Kunst und der Architektur. Beim Betreten dieses Raumes stehen die Besucher vor drei großen leeren rechtecki- gen Formen. Der Blick wird in diese eingeladen, um eine meditative Erfahrung von Raum, Perspektive und Zeit zu erleben, die die rationale geometrische Struktur und die symbolische Harmonie des Renaissancegebäudes stört. »Void Pavilion VII ist eine formale Struktur. Es handelt sich um ein kleines Gebäude, das die Leere oder Dunkel- heit aufnimmt und Raum für das Ungeformte oder Ver- borgene bietet. Ein Ort für das »Unheimliche« – vielleicht in diesem Sinne das Gegenteil von dem, was die Erbauer des Palazzo Strozzi im Sinn hatten«, beschreibt Kapoor. Im Obergeschoss beginnt die Ausstellung mit dem ikonischen Werk Svayambhu (2007).

Anish Kapoor, Svayambhu, 2007, Wachs, ölbasierte Farbe

Anish Kapoor, Svayambhu, 2007, Wachs, ölbasierte Farbe

Ein Begriff aus dem Sanskrit, der das beschreibt, was von selbst entsteht. Das Pendant zu den ungefärbten christlichen Acheropita-Bil- dern, die nicht von Menschenhand gemalt wurden. Das Werk bietet eine dialektische Reflexion über Leere und Materie: Ein monumentaler Block aus rotem Wachs be- wegt sich langsam durch zwei Räume des Palazzo Stroz- zi und formt dessen formlose Materie im Verhältnis zur durchquerten Architektur. Dieses Werk tritt in Dialog mit Endless Column (Unendliche Säule, 1992), das explizit auf die berühmte gleichnamige Skulptur von Constantin Brâncuși Bezug nimmt. Kapoors rote Pigmentsäule scheint die Grenzen des Bodens und der Decke des Raumes zu überschreiten und erzeugt ein Gefühl architektonischer Ätherität, eine Metapher für die Verbindung zwischen Erde und Kosmos.

To Reflect an Intimate Part of the Red (Um einen intimen Teil des Roten zu reflektieren, 1981), ist ein wichtiges Werk in Kapoors Karriere. Dieses hat ihn auf der internationalen Kunstszene als eine der originellsten Stimmen der zeitgenössischen Kunst etabliert: eine fesselnde Sammlung von Formen in gelbem und rotem Pigment, die aus dem Boden auftauchen – zerbrechlich, fast überirdisch, aber kraft- voll präsent. In Non-Object Black (Nichtobjekt Schwarz, 2015) – gekennzeichnet durch die Verwendung des hochinnovativen Materials von Vantablack, das mehr als 99,9 Prozent des sichtbaren Lichts absor- biert – stellt Kapoor die Idee eines physischen und greifbaren Objekts selbst infrage und präsentiert uns Formen, die sich beim Betrachten auflösen.

Anish Kapoor, Non-Object Black, 2015 | Ohne Titel, 2023, Harz, Farbe | Dark Brutal, 2023, Mischtechnik, Farbe

Anish Kapoor, Non-Object Black, 2015 | Ohne Titel, 2023, Harz, Farbe | Dark Brutal, 2023, Mischtechnik, Farbe

In diesen revolutionären und eindringlichen Werken fordert uns Kapoor dazu auf, die Vorstellung des Seins selbst zu hinterfragen. Er reflektiert nicht nur über die Dinglichkeit, sondern auch über die Immaterialität, die unsere Welt durchdringt. Diese intensive Erfah- rung des Nichtobjekts setzt sich in Gathering Clouds (Wolken, die sich sammeln, 2014) fort – konvexe, monochrome Formen, die den umgebenden Raum in eine meditative Dunkelheit einsaugen. Kapoors Kunst bietet tatsächlich eine neue Art und Weise, »Realität« zu sehen und zu denken.

Fleisch, organisches Material, Körper und Blut sind wiederkehrende und grundlegende Themen in Kapoors Schaffenskraft. Die große Skulptur aus Stahl und Harz – A Blackish Fluid Excavation (Eine Aus- grabung mit schwärzlicher Flüssigkeit, 2018) – ruft eine verdrehte Gebärmutterhöhle hervor, die den Raum und die Sinne des Betrachters durchquert. In den an der Wand ausgestellten Arbeiten verbindet Kapoor hingegen Malerei und Silikon zur Schaffung von flüssigen Formen, die wie viszerale Massen erscheinen, die scheinbar ein Eigenleben führen. Die Strukturen verdrehen sich, dehnen sich aus und ziehen sich zusammen. Das vermittelt ein Gefühl von Bewegung und kontinuierlicher Veränderung, aber auch eine starke taktile Sinnlichkeit, die aus der Wechselwirkung zwischen Weichheit und Festigkeit, Organik und Linearität entsteht.

Die traditionelle Vorstellung von Grenzen und die Dichotomie zwischen Subjekt und Objekt sind hingegen zentrale Themen in spiegelnden Werken wie Vertigo (Schwindel, 2006), Mirror (Spiegel, 2018) und Newborn (Neugeborenes, 2019), die wiederum von den formalen Experimenten von Brâncuși inspiriert sind. Durch die Reflexionen dieser Werke tritt das Spiegelbild in eine illusorische Dimension ein, die die Gesetze der Physik zu widerlegen scheint.

Anish Kapoor, Vertigo, 2006, Edelstahl, 225 × 480 × 60 cm | Mirror, 2018, Edelstahl, 195 × 195 × 25 cm | Newborn, 2019, Edelstahl, 300 × 300 × 300 cm

Der Höhepunkt des Ausstellungsparcours im Obergeschoss ist der Raum, der dem Werk Angel (Engel, 1990) gewidmet ist – große Schiefersteine, die mit Schichten intensiver blauer Pigmente bedeckt sind. Diese schweren Steine widersprechen deren immateriellem Erscheinungsbild: Sie scheinen die Luft zu verfestigen und die Verwandlung von Schieferplatten in Stücke des Himmels zu verwandeln, wodurch die Idee von Reinheit in ein materielles Element verwandelt wird. Kapoor verändert die starke Materialität des Werks und ruft ein Gefühl von Mysterium hervor. Dieses entspricht der esoterischen Ambition, die Vereinigung der Gegensätze zu erreichen.

 

 

Durch historische und zeitgenössische Werke bietet die Ausstellung die Möglichkeit, direkt mit Kapoors Kunst in deren Vielseitigkeit, Uneinheitlichkeit, Entropie und Vergänglichkeit in Kontakt zu treten. Palazzo Strozzi wird zu einem gleich- zeitig konvexen sowie konkaven, intakten sowie zerbrochenen Ort, an dem der Besucher aufgefordert ist, die eigenen Sinne infrage zu stellen.

ANISH KAPOOR, Untrue Unreal
Palazzo Strozzi in Florenz
Bis 04. Februar 2024

www.palazzostrozzi.org