Im Alter von 17 Jahren besuchte Anselm Kiefer mit seinen Eltern Florenz und war fasziniert vom Palazzo Strozzi – einer strengen, »minimalistischen« Architektur, deren Quaderwerk Stärke und Undurchdringlichkeit ausstrahlt und nichts von dem »Barock« hat, das ihn schon damals störte. Heute stellt die Ausstellung »Gefallene Engel« im Palazzo Strozzi einen wichtigen Punkt in der Geschichte des Künstlers dar, der Deutschland 1992 verlassen hat und in Frankreich lebt. Er hat sein Atelier in Croissy auf der Ile de France in der Nähe der Insel der Impressionisten, während er in Barjac bei Nimes eine riesige Kunstlandschaft aufgebaut hat. Die Ausstellung, deren Planung mehr als fünf Jahre in Anspruch nahm, wird mit dem riesigen Gemälde Engelssturz 2022–2023 eröffnet, dessen Thema der Apokalypse entnommen ist und das die Besucher im Innenhof des Palastes willkommen heißt. Ein deklaratives Werk, das die Ausstellung in eine ganz bestimmte Richtung lenkt: den Ursprung des Bösen. Immer ein heikles Thema für den Katholizismus – für den Gott gut und der Mensch böse oder zumindest frei ist, Unrecht zu tun.

 



Aber was haben die Engel damit zu tun?
Wahrscheinlich muss alles einen Anfang ha­ben. Und so wurde die Geschichte von den rebelli­schen Engeln oft herangezogen, um den Ursprung des Bösen zu erklären – oder zumindest, warum sie aus dem Paradies vertrieben wurden. Es war der Erzengel Michael, der einzige in der Bibel er­wähnte Erzengel, der dies tat, um einen bestimm­ten Engel mit dem Namen Luzifer zu vertreiben. Der Fehler dieses außergewöhnlichen Protagonis­ten der christlichen Mythologie – des »Lichtbrin­gers«, wie sein Name schon sagt – liegt gerade darin, dass er von Gott als der beste und treueste unter den Engeln angesehen wurde. Doch Luzifer sündigte aus Hochmut: Er wollte selbst Gott sein und wurde mit der Verbannung, dem Sturz auf die Erde, weit weg vom Paradies, in den Mittel­punkt der Erde bestraft. Natürlich wurden auch seine Gefolgsleute bestraft. Andere Engel fielen ins Verderben und in die Ferne von Gott. Die gro­ße, über 7 mal 8 Meter messende Leinwand domi­niert den Innenhof und verweist nicht nur auf die Theodizee, sondern eröffnet auch eine Diskussion über die Beziehung zwischen Mensch und Gott.

Auch auf der ikonografischen Ebene gibt es einige interessante und unerwartete Öffnungen. In einem Interview mit dem Kurator Arturo Galansino, dem Direktor des Palazzo Strozzi, sagte Kiefer: »Ich habe mich von vielen Werken der italienischen Tradition inspirieren lassen, insbesondere von Luca Giordano, dem neapolitanischen Künstler, der das Thema in zahlreichen Gemälden behan­delt hat, die sich heute im Kunsthistorischen Mu­seum in Wien, in der Gemäldegalerie in Berlin und in Neapel in der Kirche der Himmelfahrt in Chiaia befinden. Ich bezog mich jedoch auf ein weniger bekanntes Gemälde, die Vertreibung der rebelli­schen Engel (oder des Heiligen Michael), das sich heute im Museum von Cádiz befindet.« Der Sturz des Engels ist also ein Werk, das sich in eine sehr reiche Ikonografie einfügt, aber Kiefer hat sich nie davor gescheut, den Glauben herauszufordern.

Das Gesamtthema der Ausstellung spiegelt die Fähigkeit des deutschen Künstlers wider – die Bedeutung des Denkens, der Philosophie und der Literatur auch in der bildenden Kunst zu betonen. Kiefer hat gesagt, dass »Malerei Philo­sophie ist«. Aber er hat immer eine große Viel­falt von Medien benutzt, um dies auszudrücken. Durch den stets gewagten Einsatz verschiedener Materialien und Techniken schafft Kiefer Werke, die wegen ihrer starken physischen und taktilen Präsenz geschätzt werden und eine unmittelbare und authentische Verbindung mit dem Betrachter herstellen. Stets an ihrem alchemistischen Wert interessiert, verwandelt Kiefer Rohmaterialien wie Blei, Wachs, Samen, Erde, Blumen, Sand und Asche in beeindruckende und suggestive Werke aus dichten Schichten. Durch Techniken wie Elek­trolyse oder Feuer erfahren die Materialien echte physikalische Transformationen. Die verschiede­nen visuellen Schichten, die Sedimentationen, bie­ten eine mehrfache Lesart, die dem Betrachter im­mer neue Bedeutungen und Details offenbart. Mit Für Antonin Artaud: ­Helagabale (2023) bezieht sich Kiefer auf Héliogabale ou l›anarchiste couronné (Heliogabalus oder der gekrönte Anarchist, 1934), ein Buch des französischen Künstlers, Schauspie­lers und Dramatikers Antonin Artaud über den exzentrischen römischen Kaiser Marcus Aurelius Antoninus, genannt Heliogabalus. Ihm hatte Kiefer in den 1970er-Jahren ebenfalls Werke gewidmet. Als junger Kaiser im 3. Jahrhundert n. Chr. ver­suchte Heliogabalus, den Kult des Sonnengottes Baal als Staatsreligion einzuführen. Dies gelang ihm nicht, da er wegen der Neuheit seiner Ideen ermordet wurde. SOL INVICTUS Heliogabal (Un­besiegte Sonne Heliogabalus, 2023) ist der Titel des zweiten großen Gemäldes im Saal, das sich durch einen leuchtenden Goldgrund und riesige Sonnenblumen auszeichnet, die in seinem Werk immer wieder verwendet werden und mit denen Kiefer auf heidnische Feste verweist, die rituell den Sieg des Lichts über die Dunkelheit feierten. In diesen Gemälden tauchen Symbole auf, die in der Ikonografie Kiefers ständig präsent sind: Sonnen­blumen und Schlangen. Die Schlange hat für Kie­fer verschiedene Bedeutungen. Sie ist ein Symbol für die Erde, für die Sünde oder auch für die Re­generation, da sie sich häutet. Die Sonnenblume ist eine Pflanze, die mit der Sonne, aber auch mit der Erde verbunden ist. Sie erinnert an seine Ver­ehrung für Vincent Van Gogh seit seiner Jugend.

Ein Beispiel für seine Poetik, die Kunst und Phi­losophie verbindet, findet sich in einer Wieder­aufnahme von Die Schule von Athen (2022). In Vor Sokrates (Before Socrates, 2022) erstellt er eine Art Stammbaum der vorsokratischen Phi­losophen, darunter Archimedes, Anaximander, Anaximenes und Parmenides. In Ave Maria (2022) hingegen sind die Philosophen vor und nach So­krates vertreten, von Heraklit und Epikur bis hin zu Platon und Aristoteles. Während die vorso­kratischen Philosophen nach dem Archè, dem Prinzip des Lebens und der Welt, suchten und dabei häufig Elemente wie Wasser, Luft und Feuer verwendeten, wandte sich die Philosophie nach Sokrates dem menschlichen Schicksal und den Prinzipien des Wissens zu. Doch Kiefers Kultur geht über den engen Rahmen der vorherrschen­den Ideologien hinaus, in den großartigen Holz­schnitt Hortus Philosophorum (Der Garten des Philosophen, 1997–2011). Das Werk zeigt ein Feld von Sonnenblumen, deren vertikale Entwicklung an die Vereinigung von Erde und Himmel erin­nert; eine der Pflanzen wächst mit ihren Wurzeln aus dem Nabel eines nackten Mannes, der auf dem Boden liegt. Letzterer stellt den Künstler selbst dar, erinnert aber auch an eine berühmte Figur der Esoterik: den englischen Philosophen, Arzt, Okkultisten und Alchemisten Robert Fludd (1574–1637), der die Sterne des Universums mit den Pflanzen auf der Erde in einen Dialog brachte.

»Fallen Angels« nimmt nach der Kraft des großen Gemäldes im Hof des Palazzo Strozzi, in dem es eine Fortsetzung der Renaissanceprä­senz zu sein scheint, die Florenz auf jeden Fall heraufbeschwört und repräsentiert, eine immer initiativere und geheimnisvollere Wendung. Es ist auch deshalb faszinierend, weil die komple­xe Kultur des Autors mit der gleichen Kraft zum Vorschein kommt, wie sie in seinen Werken zum Ausdruck kommt. Die Verbindung zwischen Erde und Himmel oder zwischen der Welt und der Erde nach Heideggers Philosophie, bestimmte Positionen des Shavasana in der Yogapraxis, die Anwesenheit von Künstlern wie ­Artaud selbst, »der Selbstmörder der Gesellschaft«, bieten dem Besucher außergewöhnliche Öffnungen und un­endliche Möglichkeiten zum Nachdenken. In Lo­culus solus 2019–2023, einem Werk, das visuell mit großen, monströsen Zähnen konstruiert ist, ist er eine Hommage an den gleichnamigen Ro­man von 1914 eines anderen Dérangers der euro­päischen Literatur, jenes Raymond Russell, der denkwürdige Seiten über Reisen und Visionen schrieb. Es gibt viele Verbindungen zur Literatur. Nicht nur die bereits erwähnten, sondern auch die Anwesenheit von Joyce oder unseres eige­nen Quasimodo ist wichtig. Außerdem schreibt Kiefer auch innerhalb seiner Werke, in denen immer wieder Phrasen, Namen, Anspielungen, Textformeln im Allgemeinen auftauchen. Das zeigt, wie sehr Malerei und Schreiben für ihn zu­sammenfallen. En Sof (Das Unendliche, 2016) ist dem kabbalistischen Denken und der jüdischen Mystik gewidmet. Das Balder-Lied (2018) ist von der skandinavischen Literatur inspiriert. Danae erinnert an die klassische Mythologie. Seine eige­nen Materialien bleiben in ihrer symbolischen Reflexion etwas absolut Einzigartiges: sicherlich das Blei – ein alchemistisches Material, mit dem er einprägsame »Bücher« herstellen konnte und das er vom Dach des zerstörten Kölner Doms entnahm –, aber auch der Kristall seiner Vitrinen, der den Berührungspunkt zwischen innen und außen, zwischen Künstler und Publikum darstellt.

Die Ausstellung ist völlig immersiv. Aber nicht we­gen der eingesetzten Multimediatechnik, sondern wegen der emotionalen Aufladung, wie sie nur Kiefer und wenige andere Künstler auf der Welt haben können. Verstrahlte Bilder (1983–2023) besteht aus sechzig Gemälden, die die Wände und die Decke von einem der größten Säle des Palazzo Strozzi vollständig ausfüllen. In der Mit­te des Raumes befinden sich große Spiegel, in denen man die Werke an den Wänden und der Decke betrachten kann. Wenn man nach unten blickt, stellt man fest, dass man sich inmitten einer enormen Anzahl von Gemälden befindet, die Zer­störung und Verfall evozieren. Für Kiefer ist »die Zerstörung ein Mittel, um Kunst zu machen«. Die Installation, die kaum von Stehlampen beleuchtet wird, erweckt den Eindruck, in eine Zaubererhöhle oder eine paläolithische Höhle eingedrungen zu sein. Die Identität der Werke selbst verschwindet. Es sind die Kraft und die Suggestion der Umge­bung, die dem Ganzen einen Sinn geben. Die Ver­wendung von sogenannten »bestrahlten Gemäl­den«, die durch Strahlung vernarbt und verfärbt sind, verleiht der Installation eine suggestive und melancholische Dimension, die zum Nachden­ken über die Unsicherheit der Existenz und die Macht der Kunst anregt. Kiefer unterzieht seine Gemälde häufig chemischen Phänomenen wie der Elektrolyse oder setzt sie neben den natürlichen Elementen auch der Strahlung aus. Für ihn ist kein Werk jemals fertig. Jedes Werk folgt seiner eigenen Metamorphose, der Haltepunkt kann nie erreicht werden, nichts ist endgültig.

Aber in dieser außergewöhnlichen Ausstellung gibt es auch zwei Momente, die der Erinnerung und in gewisser Weise der Nostalgie gewidmet sind: nicht nur durch die Neuinterpretation seiner früheren Werke, sondern auch durch die Überar­beitung von Materialien, Themen und Kompositio­nen. In Der Rhein (1982–2013) bezieht sich Kiefer auf seine Kindheit und seine Beziehung zu dem Wasserweg, der symbolisch für ganz Deutschland steht. In Dem unbekannten Maler (2013) identifi­ziert sich Kiefer mit der Figur des »unbekannten Malers«, dem ein Denkmal gewidmet ist. Er ehrt damit auch die Erinnerung an Künstler, die unter Repressionen und Zensur gelitten haben oder von der Geschichte vergessen wurden. Auch die Technik des Holzschnitts ist Teil dieser persönli­chen und kollektiven Erinnerung oder Mythologie. Er ist nicht nur der Fluss schlechthin der Deut­schen, sondern auch die Hauptstichtechnik von Mitteleuropa. In den »Heroischen Sinnbildern«, die zwischen den 1960er- und 1970er-Jahren entstanden, verwendet Kiefer eine weniger martialische Version des Nazi-Grußes »Sieg Heil« mit erhobenem Arm, der in verschiedenen europäischen Städten fotografisch festgehalten wurde – mit der Absicht, die Geschichte als das zu thematisieren, was sie war, ohne etwas zu verbergen. Diese Werkreihe hat mehrere Versionen, die auf Blei gedruckt sind und stellt nicht nur eine klare Haltung des jungen Kiefer gegenüber dem Nazismus dar, sondern auch den Beginn seiner künstlerischen Tätigkeit. Im Interview mit dem Kurator sagte er: »Ich habe diese Serie im Rahmen meiner Abschlussprüfung an der Universität geschaffen, mit der Begründung, dass sie die beste Note oder gar nichts verdient hätte. Einer meiner Professoren, der fast unbekannte Künstler Rainer Maria Küchen­meister, der in einem Konzentrationslager interniert war, setzte sich für mich ein.« Mit der Wehrmachts­uniform seines Vaters wird ein anderer Aspekt von Kiefers Welt gezeigt. Am Ende der Ausstellung gehen wir in der Zeit zurück: Wir haben die Fotografie und nicht die Malerei, eine andere Darstellung des Bösen, die sich zu der bildlichen vom Anfang gesellt. Eine Möglichkeit, die Ursprünge einer einzigartigen künst­lerischen und persönlichen Reise zu zeigen.

 

Ausstellung
Gefallene Engel
Palazzo Strozzi
Piazza Strozzi
50123 Florzenz

bis 21. Juli 2024
Öffnungszeiten der Ausstellung
Täglich 10 - 20 Uhr
Donnerstags bis 23 Uhr
www.palazzostrozzi.org

 

Autor: VALERIO DEHÒ promovierte in Bologna in Sprachphilosophie und lehrt Ästhetik an der Akademie der Schönen Künste in Bologna. Er war Direktor des Projekts »Novecento« für die Gemeinde Reggio Emilia und künstlerischer Leiter von Kunst Merano Arte. Im Jahr 2005 wurde er zum Kommissar der 16. nationalen Quadriennale in Rom ernannt, 2014 in den Vorstand der AMACI (Association of Contemporary Art Museums of Italy) berufen. Dehò ist der künstlerische Leiter der TRA Treviso Ricerca Arte und Kurator des Kunst­preises »Prima pagina art prize« organisiert von Resto del Carlino auf der Arte Fiera in Bologna. Er hat zahlreiche Ausstellungen in Italien und im Ausland kuratiert.