
Ein Ausstellungsbesuch, der berührt – auf Augenhöhe zwischen Kaiser, Kunst und Menschlichkeit.
Ein prachtvoller Ort, der Geschichte atmet, wird zur Bühne für Kunst, die aus dem Innersten kommt. Im Benediktinerstift Melk, in jenem Kaisergang, der einst Monarchen vorbehalten war, entfaltet sich diesen Sommer ein Dialog von seltener Intensität: Zwischen den Herrscherporträts der Babenberger und Habsburger entfalten Werke der Art Brut ihre stille, aber eindringliche Präsenz. Die Ausstellung „Art Brut im Kaisergang“ lädt bis zum 1. September 2025 dazu ein, diesen traditionsreichen Ort neu zu sehen – und vor allem zu fühlen.
Kuratiert wurde die Schau von Hans Hoffer, Präsident von GLOBART, dessen persönliche Auseinandersetzung mit der Kunstform Art Brut tief verwurzelt ist. Bereits während seines Studiums an der Akademie der bildenden Künste war er mit den Arbeiten aus Gugging konfrontiert. „Es war die sehr persönliche Art der Transformation, die mich als eigentlichen künstlerischen Akt fasziniert hat – damals wie heute“, erinnert sich Hoffer. Seine kuratorische Handschrift ist spürbar: Nicht eine akademische Chronologie oder kunsthistorische Systematik steht im Vordergrund, sondern ein bewusst subjektives Gespür für Dramaturgie, Atmosphäre und Resonanz.
„Art Brut ist in den Zwischenräumen zu Hause“
Die Werke stammen aus der international renommierten Sammlung von Hannah Rieger, deren lebenslange Leidenschaft für Art Brut hier sinnlich erlebbar wird. Mit über 550 Werken hat ihre Privatsammlung Gewicht. Im Kaisergang werden 45 Werke, darunter Arbeiten von Ikonen wie Oswald Tschirtner, Johann Hauser, Magalí Herrera, Misleidys Castillo Pedroso, Michel Nedjar und Aloïse Corbaz – aber auch beeindruckende Positionen wie Laila Bachtiar, die sogar mit zehn Werken vertreten ist.
„Art Brut ist in den Zwischenräumen der Herrscherporträts zu Gast“, formuliert es Hannah Rieger treffend. Und genau dort entfaltet sie ihre Kraft: im Kontrast, in der Reibung, in der stillen, oft unbequemen Präsenz jener Stimmen, die lange marginalisiert wurden. Rieger betont: „Meine Vision ist die Gleichstellung der Art Brut mit der akademischen Kunst. Die Rehabilitation der lange ausgegrenzten Künstlerinnen und Künstler liegt mir am Herzen.“
Werke, die sprechen – exemplarische Einblicke
Einige Arbeiten der Ausstellung brennen sich nachhaltig ins Gedächtnis ein. Allen voran Josef Wittlichs Interpretation von Kaiser Franz Joseph, die als symbolstarkes Titelbild fungiert. Der farbkräftige Blick des Kaisers, gemalt von einem Arbeiter in nächtlicher Einsamkeit und inspiriert von Versandhauskatalogen, wirft einen neuen, fast verletzlichen Blick auf imperiale Repräsentation.
Laila Bachtiars Werk Löwe im Dschungel begeistert durch seine strukturierte Farbkomposition. Aus geometrischen Bausteinen entsteht ein mythisches Tier, das kraftvoll und doch sanft in den Raum tritt – ein Freund vielleicht, den sich die autistische Künstlerin mit jeder Linie näher zeichnet.
Von zarter, beinahe spiritueller Schönheit ist Magalí Herreras untituliertes Werk von 1968. In Trance entstanden, wirkt es wie eine schwebende Blüte auf dunklem Grund – eine stille Meditation über das Unsichtbare. Ihre Kunst ist Poesie in Pigment.
Ein weiteres Highlight ist Michel Nedjars Paris Belleville (1989), das mit archaischer Wucht von inneren und familiären Traumata erzählt. Gesichter, Masken, Körperfragmente – seine Malerei ist ein Aufschrei, ein Erinnerungsraum. Nedjar zählt zu den wenigen lebenden Künstlern, die Jean Dubuffet persönlich in seine Sammlung aufnahm.
Vom Glanz der Macht zur Tiefe der Existenz
Was diese Ausstellung so besonders macht, ist nicht nur der kuratorische Mut, sondern auch der gewählte Ort. „Wir zeigen dem Gesamtkunstwerk Stift Melk gegenübergestellt das Fragile, das Zerbrechliche und Randständige der Art Brut“, sagt Kurator Hoffer. Der Kaisergang, einst Repräsentationsraum imperialer Macht, wird so zu einem Raum der Empathie, der Irritation und der Öffnung. Die historische Auftragskunst begegnet hier einer „Kunst von innen“, die mit radikaler Subjektivität, ungebrochener Symbolkraft und oft berührender Direktheit auftritt.
Pater Ludwig Wenzl, der das kulturelle Geschehen im Stift Melk verantwortet, bringt es auf den Punkt: „Diese Ausstellung versteht sich als Einladung, den Kaisergang nicht nur als geschichtlichen Ort zu begehen, sondern ihn auch als Resonanzraum zu erleben – zwischen Tradition und Bruch, Vergangenheit und unmittelbarer Gegenwart.“
Ein poetisches Manifest von GLOBART
Für GLOBART, Mitorganisator der Ausstellung, ist die Verbindung von Diskurs und Intuition ein zentrales Anliegen. In den Worten von Heidemarie Dobner und Fabian Burstein heißt es: „Dem Entweder-oder setzt GLOBART ein überzeugtes Sowohl-als-auch entgegen.“ Art Brut wird in diesem Kontext nicht nur als künstlerische Bewegung verstanden, sondern als poetisch-radikaler Kommentar zu unserer Zeit, als Kraftquelle in einer Ära der permanenten Verwandlung. Die Ausstellung ist zugleich Teil der „Tage der Transformation 2025“, in deren Zentrum das Thema „Achtung“ steht – verstanden als Respekt vor dem Anderen, dem Anderen in uns selbst und der Vielfalt künstlerischer Ausdrucksformen.
„Die wahre Kunst ist immer da, wo man sie nicht erwartet.“
Die Ausstellung „Art Brut im Kaisergang“ ist mehr als ein Besuch wert – sie ist eine Erfahrung, die sich in Erinnerung eingräbt. Sie lässt uns mit anderen Augen auf Kunst, Geschichte, Psychologie und die Kraft des inneren Ausdrucks blicken. Gerade in ihrer Intimität ist sie eine mutige Ausstellungen. In einer Zeit, in der Vieles nach Glanz strebt, zeigt sie das Unverstellte, das Verletzliche, das Wahre. Oder, wie es Jean Dubuffet formulierte: „Die wahre Kunst ist immer da, wo man sie nicht erwartet.“
Ein umfangreicher Online-Katalog zur Ausstellung mit weiterführenden Texten, Künstlerporträts und Abbildungen der Werke hier verfügbar.
AKTUELLE AUSSTELLUNG
Art Brut im Kaisergang – Werke aus der Sammlung Hannah Rieger
bis 1. September 2025
Benediktinerstift Melk, Abt-Berthold-Dietmayr-Straße 1, 3390 Melk
Kurator: Hans Hoffer
In Kooperation mit GLOBART