Die Ausstellung Gerhard Richter. 100 Werke für Berlin zeigt erstmals eine Auswahl der langfristigen Dauerleihgabe der Gerhard Richter Kunststiftung an die Nationalgalerie. Das zentrale Werk der Schau im Grafischen Kabinett der Neuen Nationalgalerie ist der aus vier großformatigen, abstrakten Bildern bestehende Zyklus „Birkenau“ (2014). Er ist das Ergebnis einer langen und tiefen Auseinandersetzung von Gerhard Richter mit dem Holocaust und dessen Darstellbarkeit.

Neben dem Birkenau-Zyklus sind mehr als 90 weitere Arbeiten des Künstlers aus mehreren Schaffensphasen seit den 1980er-Jahren zu sehen, darunter „Besetztes Haus“ (1989), „4900 Farben“ (2007) und „Strip“ (2013/2016). Ein weiteres Konvolut umfasst Arbeiten aus der bedeutenden Werkgruppe „Übermalte Fotografien“ (seit 1986). Die Ausstellung entstand in enger Zusammenarbeit mit dem Künstler. Seit sechs Jahrzehnten setzt sich Gerhard Richter (geboren 1932 in Dresden) mit den Möglichkeiten und Grenzen der Malerei auseinander. Die in der Ausstellung versammelten Kunstwerke rufen das Spannungsverhältnis von Abstraktion und Figuration, zwischen Fotografie und Malerei auf, das Richters gesamtes Schaffen prägt.

Seit den 1960er-Jahren stellte sich Richter die Frage, inwiefern Kunst nach dem Holocaust und dem Terrorregime des Nationalsozialismus überhaupt noch möglich ist. Richter, der 1961 aus der DDR in die Bundesrepublik übersiedelte, befasste sich in vielen Arbeiten mit der deutschen Vergangenheit und der eigenen Familiengeschichte. In der Ausstellung sind Foto-Editionen der Gemälde „Tante Marianne“, „Onkel Rudi“ und „Herr Heyde“ (1965) zu sehen, die er nach fotografischen Vorlagen malte und durch das Verwischen der Ölfarbe unscharf machte. Dies war für ihn eine Möglichkeit dem direkten Abbild auszuweichen. Um die Verweigerung eines direkten Abbildes geht es in den abstrakten Bildern, die seit 1976 entstehen.

In der Ausstellung sind vor allem Werke der 2010er Jahren zu sehen. Richter malt darin farbintensiv und in mehreren Schichten. Die Farben werden mit einer Rakel aufgetragen, vermischt und zugleich partiell wieder abgeschabt. Das Ergebnis ist ein Zusammenspiel von Zufall und bewussten Entscheidungen bei dem der Entstehungsvorgang des Kunstwerkes sichtbar bleibt.

1999 realisierte Richter für die Eingangshalle des Deutschen Bundestages „Schwarz-Rot-Gold“, eine dreiteilige monumentale Wandinstallation aus farbemaillierten Glasplatten, die er als Zeichen des Neuanfangs nach dem Zweiten Weltkrieg verstand. Teil der Ausstellung ist die kleinformatige Glasarbeit „Schwarz, Rot, Gold“ (1999), die sich auf das Werk im Bundestag bezieht. Präsentiert wird sie gemeinsam mit zwei Spiegel-Arbeiten, den Foto-Editionen und den Gemälden „Schädel“ (1983) und „Besetztes Haus“ (1989). In dem aus 196 quadratischen Einzeltafeln zusammengesetzten Bild „4900 Farben“ (2007), die in jeweils 25 Farbquadrate unterteilt sind, greift Richter seine von 1966 bis 1974 andauernde Untersuchung von Farbfeldern auf. Damals war Richter fasziniert von industriell gefertigten Farbmusterkarten, ihrer Perfektion, Genauigkeit der Farbwiedergabe und den Möglichkeiten der Variation. Die Quadrate waren das Gegenteil von Gefühlsbetontheit oder Erhabenheit, Eigenschaften, die die Malerei bis dahin ausmachen schien.

2007 setzte er sich im Rahmen der Arbeit an dem Südquerhausfenster im Kölner Dom und dem Monumentalbild „4900 Farben“ erneut mit der Thematik auseinander. Für „Strip“ (2013/16) unterteilte Richter eines seiner „Abstrakten Bilder“ (1990) mittels eines computergesteuerten Verfahrens in immer kleinere Segmente, zog diese durch Spiegelung der Achsen in die Länge und arrangierte die Teilstücke neu. Das Ergebnis ist eine Kombination aus scheinbar zufälligen Streifenmotiven und ihrer bewussten Ordnung durch den Künstler. Die Möglichkeiten und Grenzen der Malerei spielen auch im Zyklus „Birkenau“ (2014) eine zentrale Rolle. Ausgangspunkt sind vier Fotografien aus dem Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau, die im August 1944 von jüdischen Häftlingen, heimlich und unter Lebensgefahr, aufgenommen wurden. Es sind die einzigen bekannten Aufnahmen aus dem Vernichtungslager, die von Häftlingen selbst fotografiert wurden. Publiziert wurden sie erst nach dem Zweiten Weltkrieg.

Bereits 1967 hatte Richter eine der Fotografien in seinen „Atlas“ aufgenommen. Doch erst die Veröffentlichung der Aufnahmen in Georges Didi-Hubermans Buch „Bilder trotz allem“ (2008), in dem der französische Philosoph sie zum Anlass einer Analyse über die Darstellbarkeit des Holocaust nahm, veranlassten Richter, sich erneut mit dem Thema zu beschäftigen. Richter übertrug die vier Motive mit Kohle und Ölfarbe auf einzelne Leinwände und entschied dann, diese abstrakt zu übermalen. Mit jeder neuen Farbschicht verschwanden die gemalten fotografischen Vorlagen mehr, bis sie schließlich für die Betrachtenden nicht mehr sichtbar waren. Richter vollzog damit einen Abstraktionsprozess, aus der Überzeugung heraus, dem unfassbaren Grauen des Holocaust mit einer gegenständlichen Abbildung nicht gerecht werden zu können. Durch die Abstraktion der figurativen Vorlage entsteht ein Raum zwischen Zeigen und Nicht-Zeigen, der ein Feld an Reflexionen eröffnet. Den vier Gemälden gegenübergestellt ist ein großer, vierteiliger grauer Spiegel. Seit den 1960er-Jahren begleiteten Glas- und Spiegelarbeiten Richters Malerei, mit denen er die Grenze zwischen „natürlichem“ und „künstlerischen“ Abbild auslotet. Die Spiegel verweisen auf eine äußere Realität und ermöglichen den Besucher*innen eine persönliche Reflektion.

Das Verhältnis von Abstraktion und Figuration, Fotografie und Malerei, wird auf einer anderen Ebene auch in der Serie „Übermalte Fotografien“ verhandelt, die Richter seit 1986 schuf. Dies sind kleinformatige Fotoabzüge von Museumsbesuchen, Reisen, Spaziergängen oder der Familie. Wie keine andere Werkgruppe verkörpern sie die Schnittstelle zwischen der Darstellung fotografischer Bildinhalte und abstrakter Malerei.

Gerhard Richter. 100 Werke für Berlin
1. April 2023 bis 2026
Sonderausstellungen der Nationalgalerie – Staatliche Museen zu Berlin

Abbildungen: Ausstellungsansichten „Gerhard Richter. 100 Werke für Berlin“, Staatliche Museen zu Berlin, Neue Nationalgalerie, 1. April 2023 bis 2026 © Gerhard Richter 2023 (31032023) (Foto: David von Becker)