
Die Welt der Kunst belohnt oft diejenigen, die ihre Grenzen herausfordern. Nur wenige Persönlichkeiten verkörpern dieses Prinzip so eindringlich wie Semiha Berksoy. Geboren am 24. Mai 1910 im kulturell reichen Stadtteil von Istanbul, erstreckt sich Berksoys Leben und Werk über eine Vielzahl von Disziplinen und verbindet Oper, Malerei und Performance zu einem nahtlosen Geflecht des Selbstausdrucks.
Ihre einzigartige Verschmelzung von visuellen und darstellenden Künsten sowie ihre innovativen Ansätze in beiden Bereichen machten sie zu einer bedeutenden Figur der Kunst- und Musikszene des 20. Jahrhunderts. Ihr Werk, geprägt von emotionaler Tiefe, spiegelt nicht nur die Epochen wider, die sie durchlebte, sondern auch die existenziellen Fragen nach Identität, Verbindung und Selbstsein. Der Hamburger Bahnhof zeigt aktuell die erste umfassende Retrospektive der türkischen Malerin und Opernsängerin Semiha Berksoy in Deutschland, die Anfang 2026 im Istanbul Modern zu sehen sein wird.
Semiha Berksoys frühes Leben entfaltete sich in einem Umfeld voller künstlerischer Sensibilität. Ihre Mutter Fatma Saime Hanım, eine Malerin, und ihr Vater Ziya Cenap Berksoy, ein Dichter, schufen einen fruchtbaren Boden für ihre aufkeimende Kreativität. Bereits als Kind begann sie, durch Geschichten und Illustrationen Erzählungen zu weben; ihre Fantasie wurde von Poesie und Gesang genährt. Dieses frühe Engagement für die Kunst wurde zum Grundstein ihrer facettenreichen Karriere. Berksoys formale künstlerische Ausbildung begann im Atelier von Namık İsmail an der Akademie der Schönen Künste in Istanbul, wo ihre Leidenschaft für die Bildende Kunst erblühte. Ihr Leben lang betrachtete sie die Malerei als ebenso essenziell wie Nahrung. Das veranlasste sie dazu, moderne Werke mit avantgardistischem Stil zu schaffen. Dennoch beschränkte sich ihre künstlerische Reise nie auf ein einziges Medium. An der Darülbedayi-Dramaschule, die vom renommierten Muhsin Ertuğrul gegründet wurde, erkundete sie die darstellenden Künste. Mit 20 Jahren trat sie in das Konservatorium ein und wurde von Nimet Vahit ausgebildet, der ersten Ehrendozentin für Sopranistinnen in der Türkei. Diese prägenden Jahre offenbarten ihre intensive Leidenschaft für die Oper, die in ihrem Debüt in der ersten Tonfilmproduktion der Türkei, Istanbul Sokaklarında (Auf den Straßen Istanbuls), im Jahr 1931 gipfelte.
Die Oper mit ihrer gesteigerten emotionalen Ausdruckskraft und ihrer Überwindung des Alltäglichen wurde für Berksoy ein Medium zur Erforschung existenzieller Themen. Sie wird gefeiert als die erste türkische Primadonna, die auf einer europäischen Bühne auftrat. Als sie 1939 in Berlin die Rolle der Ariadne in Richard Strauss’ Ariadne auf Naxos sang, setzte sie einen bedeutenden Meilenstein in der Geschichte der türkischen Musik und Oper. Dieser Moment symbolisierte mehr als einen individuellen Triumph; es war ein Bruch mit der kulturellen Hegemonie des Westens und ein universeller Anspruch einer Persönlichkeit, die tief in der osmanischen und türkischen Kultur verwurzelt war. Dieses Ereignis setzte einen Maßstab für zukünftige Generationen türkischer Künstler, die internationale Anerkennung anstrebten. Berksoys Kunst war geprägt von ihren einzigartigen stimmlichen Fähigkeiten und ihrer unverwechselbaren Interpretation opernhafter Rollen. Ihre Aufführungen hoben häufig ihre dramatische Sopranstimme hervor, insbesondere in bemerkenswerten Produktionen wie Verdis Il Trovatore und Puccinis Tosca, in denen sie für ihre kraftvollen Darstellungen große Anerkennung fand.
Berksoys Rolle bei der Gründung der türkischen Staatsoper und des Staatsballetts war maßgeblich für die Gestaltung der modernen Kulturlandschaft der Türkei. In Zusammenarbeit mit Persönlichkeiten wie Carl Ebert spielte Berksoy eine entscheidende Rolle bei der Einrichtung der experimentellen Bühne des staatlichen Konservatoriums in Ankara im Jahr 1940. Diese Bühne diente als Plattform zur Förderung lokaler Talente und zur Weiterentwicklung der Oper in der Türkei. Ihr Engagement für ihre Kunst und ihre Bemühungen, westliche Operntraditionen mit türkischen Kulturelementen zu verbinden, legten den Grundstein für ein reiches opernhaftes Erbe im Land. Berksoys Einfluss reicht über ihre Auftritte hinaus bis in ihre späteren Jahre, in denen sie weiterhin in der Kunst aktiv blieb und ihre Identität und künstlerische Vision erforschte. Ihre Anerkennung als »Staatskünstlerin« in der Türkei festigt ihren Status als Schlüsselfigur der Kunst, die sowohl ihre Zeitgenossen als auch zukünftige Künstlergenerationen inspiriert, ihrer kreativen Ausdruckskraft mit Hingabe und Mut nachzugehen.
Im Gegensatz zu den hektischen Ablenkungen der zeitgenössischen Kultur erfordert die Oper Geduld, Eintauchen und eine Konfrontation mit dem Erhabenen. Für Berksoy war diese Konfrontation zutiefst persönlich. Während die Oper Berksoy eine Bühne bot, schenkte ihr die Malerei eine Leinwand, auf der sie ihre innere Welt festhalten konnte. Jenseits ihres stimmlichen Talents spiegeln Berksoys Beiträge zu den visuellen Künsten durch ihre Malerei ihren ganzheitlichen Ansatz des künstlerischen Ausdrucks wider. Oft stellte sie ein kleines Mädchen dar, das ihre jüngere Selbstrepräsentation verkörperte. Diese Verbindung von visuellen und darstellenden Künsten zeigt ihre einzigartige Fähigkeit, traditionelle Grenzen in ihren künstlerischen Bestrebungen zu überschreiten. Ihre Gemälde sind weder bloße Darstellungen noch dekorative Objekte – sie sind abstrakte Untersuchungen. Die wiederkehrenden Themen in ihrem Werk – Liebe, Verlust und der Lauf der Zeit – sind Echos ihrer Opernauftritte, in denen menschliche Emotionen bis zu ihren Grenzen ausgereizt werden.
Berksoys frühes Leben war von Tragödien geprägt; der Verlust ihrer Mutter im Alter von acht Jahren hinterließ einen tiefen Eindruck in ihrer Gefühlswelt und künstlerischen Ausrichtung. Dieser Verlust führte dazu, dass sie die Kunst als Mittel des Selbstausdrucks und als Weg, sich am Leben festzuhalten, nutzte. Es stärkte ihre Überzeugung, dass die Liebe die Essenz der Existenz ist. Die spirituellen Dimensionen ihres Lebens hatten ebenfalls großen Einfluss auf ihre Kunst. Berksoy glaubte, dass der Tod kein Ende, sondern eine Fortsetzung der Existenz sei; sie ließ sich von den Geistern ihrer geliebten Menschen inspirieren. Indem sie einen Dialog mit diesen Geistern in ihren Gemälden reflektierte, zeigte sie ihre tiefe Verbundenheit mit den Menschen und den Erfahrungen, die ihr Leben prägten. Sie betonte, dass die Liebe das Wesentliche des Lebens sei, was ihre Beziehungen zu Menschen, der Natur und ihren künstlerischen Unternehmungen beeinflusste. Dieses thematische Leitmotiv durchzieht ihr vielfältiges Werk und unterstreicht die transformative und beständige Kraft der Liebe.
Berksoys künstlerischer Schaffensprozess lässt sich als intimer Dialog mit der Erinnerung verstehen, bei dem jeder Pinselstrich ihren Reflexionen und gelebten Erfahrungen Leben einhaucht. Diese Idee steht in enger Verbindung mit Maurice Merleau-Pontys Konzept der »Fleischlichkeit der Welt«, das den Schaffensakt als integralen Bestandteil der menschlichen Erfahrung sieht – als Mittel, sich mit der Essenz des Lebens zu verbinden. Der menschliche Körper ist in diesem Denken keine Grenze, sondern ein Berührungspunkt mit der Welt. Das Konzept der »Fleischlichkeit der Welt« besagt, dass Subjekt und Welt aus derselben »Substanz« bestehen und sich gegenseitig beeinflussen. Diese gegenseitige Berührung ist die Grundlage der Existenz. In diesem Kontext kann Berksoys künstlerischer Prozess nicht nur als Mittel des individuellen Ausdrucks, sondern auch als Praxis des Daseins verstanden werden, die sich mit der Welt verbindet. In ihren Werken spürt man sowohl die Spuren der Vergangenheit als auch die Echos universeller menschlicher Emotionen. Jeder Pinselstrich ist nicht nur Farbe oder Form, sondern auch ein Dialog, gewoben aus Erinnerungen, Gefühlen und Leben. Aus diesem Grund sind die Figuren und Kompositionen in Berksoys Gemälden keine statischen Bilder, sondern eine Sphäre des Seins, die den Betrachter in diesen Dialog einlädt. Werke wie Meine Mutter spielt Oud (1958) und Liebesgeschichte (1968) oszillieren zwischen Freude und Verzweiflung. Sie offenbaren eine Dialektik, die sowohl zutiefst persönlich als auch universell nachvollziehbar ist. Diese Stücke präsentieren einfache und zugleich aufrichtige Darstellungen mütterlicher Liebe und zeigen, wie Berksoys persönliche Geschichte und Beziehungen ihre künstlerische Vision geprägt haben. Die spirituelle Dimension, die durch diese Porträts eingeführt wird, unterstreicht die Verbundenheit von Leben, Liebe und Tod in ihrem künstlerischen Ausdruck.
In ihrem Selbstporträt Kettenbrecherin (1968) positioniert sich Berksoy inmitten von Talismanelementen und verschmilzt dabei menschliche und tierische Formen. Diese Bildsprache spiegelt innere Konflikte und den Wunsch nach Befreiung wider – von gesellschaftlichen Normen, zeitlichen Einschränkungen und der Fragilität menschlicher Existenz. Ihre Verwendung unkonventioneller Materialien wie Hartfaserplatten erinnert an die Spontaneität von Art brut, während ihr thematischer Fokus mit dem existenziellen Ethos des abstrakten Expressionismus übereinstimmt. Berksoys Gemälde sind eine Erweiterung ihrer emotionalen Landschaften und spiegeln die Tiefe und Dramatik ihrer Opernauftritte wider. Sie sind nicht bloß statische Objekte – vielmehr sind sie lebendige Einschreibungen ihrer inneren Welt, pulsierend mit Themen wie Befreiung, Verzweiflung und Transzendenz. Werke wie das Selbstporträt Kettenbrecherin (1968) rufen eine tiefgehende spirituelle Dimension hervor, die mit ihrer Überzeugung von der Beständigkeit der Liebe und der Kontinuität der Existenz im Einklang steht. Die Symbolik in ihren Gemälden greift häufig auf ihr persönliches Leben und ihre Kämpfe zurück. Wie Dikmen Gürün in Ateş Kuşu bemerkt, dient das wiederkehrende Motiv des kleinen Mädchens in Berksoys Kunst als metaphorischer Faden, der ihre Kindheit mit der Künstlerin verbindet, zu der sie wurde. Dieses Motiv verkörpert zusammen mit talismanischen Darstellungen ihren Widerstand gegen die Brüche und Einschränkungen des Lebens. Ihre Verbindung mit dem Mythos des Phönix – Ateş Kuşu (Feuervogel) – ist besonders bemerkenswert. In einem ihrer Werke mit dem Titel Phönix (1997) kanalisiert Berksoy diesen mythischen Vogel – ein Symbol für Wiedergeburt und Unsterblichkeit – in eine lebendige, dramatische Darstellung von Resilienz und kreativer Erneuerung. Dieses Gemälde mit seinen markanten Rottönen und intensiven Pinselstrichen vermittelt nicht nur ihre persönlichen Kämpfe, sondern auch ihre Weigerung, sich von den Herausforderungen, denen sie gegenüberstand, unterkriegen zu lassen. Das Bild des Phönix war so zentral für ihre künstlerische Philosophie, dass sie auch begann, ein Opernlibretto mit dem Titel Ateş Kuşu zu schreiben, das ihren Weg des Überwindens von Hindernissen zusammenfasst. Eine weitere faszinierende Ebene ihrer Kunst liegt in ihren autobiografischen Werken wie Annem Yüzüğünü Bileziğini Bana Veriyor (Meine Mutter gibt mir ihren Ring und ihr Armband, 1974), die persönliche Erinnerungen mit einem universellen Gefühl von Verlust und Nostalgie verweben. Diese Werke beschränken sich nicht auf den visuellen Ausdruck, sondern erstrecken sich auf eine philosophische Auseinandersetzung mit Zeit und Vergänglichkeit, in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft miteinander verschmelzen. Durch diese eindringlichen Werke hinterließ Berksoy nicht nur als Malerin, sondern auch als Geschichtenerzählerin ihre Spuren, indem sie Farbe und Form nutzte, um das auszudrücken, was Worte oft nicht vermochten. Ihre Gemälde sind Akte des Widerstands. Es sind Räume, in denen Freude und Trauer koexistieren. Und sie laden den Betrachter dazu ein, über das Zusammenspiel zwischen der Fragilität des Lebens und seiner beständigen Schönheit nachzudenken.
Semiha Berksoy war eine zutiefst introspektive Künstlerin, deren persönliche Erfahrungen ihr künstlerisches Schaffen maßgeblich beeinflussten. Als Autodidaktin, die sich bis zu einem gewissen Grad selbst mythologisierte, durchzog sie ihre Werke mit einem emotionalen Stil, der ihre ereignisreiche Karriere und ihre stürmische innere Welt widerspiegelte. Bedeutende persönliche Ereignisse und Beziehungen – wie der Tod ihrer Mutter und ihre unerwiderte Liebe zum Dichter Nâzım Hikmet, der in den 1940er-Jahren in der Türkei wegen seiner kommunistischen Überzeugungen Repressionen ausgesetzt war – fanden häufig Eingang in ihre künstlerische Produktion. Ihre Korrespondenz mit Hikmet war von Sehnsucht und intellektueller Verbundenheit geprägt und offenbart eine Beziehung, die die Grenzen des Persönlichen und des Politischen überschritt. Hikmets Gedichte zeigen oft den Einfluss von Berksoys Präsenz, was auf eine gegenseitige Inspiration hinweist, die beide Leben bereicherte. Berksoys Kunst wird so zu einem Raum, in dem persönlicher Schmerz mit universellen Wahrheiten verschmilzt. Ihre Selbstmythologisierung war kein Ausdruck von Ego, sondern eine Überlebensstrategie – eine Methode, das Leben angesichts seiner unerbittlichen Vergänglichkeit zu bejahen. In diesem Sinne fordern Berksoys Leben und Werk die Dichotomie zwischen dem Heiligen und dem Profanen heraus. Ihre Opernaufführungen, ihre Gemälde und selbst ihre öffentliche Persona waren von einem Sinn für das Numinosum durchdrungen. Für Berksoy war Kunst kein Beruf, sondern eine Daseinsweise; ein Mittel, um sich mit den Mysterien von Leben und Tod auseinanderzusetzen. Dies zeigt sich vielleicht am deutlichsten in ihren späten Performances, etwa ihrem Auftritt im Alter von 89 Jahren im Lincoln Center in New York. Solche Momente unterstreichen nicht nur ihre künstlerische Ausdauer, sondern auch ihre philosophische Auseinandersetzung mit Zeit und Vergänglichkeit. Berksoys anhaltende Präsenz auf der Bühne – selbst in ihren späteren Lebensjahren – erinnert daran, dass wahre Kunst zeitlos ist und die Begrenzungen des Körpers sowie die Zwänge der Geschichte überwindet.
In Berksoys Universum wird Kunst zu einer Form des Widerstands – nicht nur gegen äußere Unterdrückung, sondern auch gegen die inneren Brüche der Existenz. Ihr Vermächtnis liegt nicht in ihrer Anpassung an Traditionen, sondern in ihrer Fähigkeit, diese zu transformieren, ihre innere Welt mit der äußeren zu verweben und ein Geflecht zu schaffen, das zur Reflexion und Auseinandersetzung einlädt. In einer Zeit, die von der Ablenkung durch Spektakel dominiert wird, erinnert uns Berksoys Leben daran, dass wahre Kunst Hingabe, Verletzlichkeit und die Bereitschaft verlangt, sich dem Erhabenen zu stellen. Ihre Geschichte ist nicht nur die einer Künstlerin, sondern die eines Wesens, das wagte, das Leben selbst zu einem Kunstwerk zu machen.
AKTUELLE AUSSTELLUNG
SEMIHA BERKSOY. SINGING IN FULL COLOUR
bis zum 11. Mai 2025
Hamburger Bahnhof
Nationalgalerie der Gegenwart
Invalidenstraße 50/51
10557 Berlin-Mitte
www.smb.museum
Autorin:
EZGI ÖZDEMIR ist eine engagierte Kultur- und Kunstkoordinatorin, die derzeit ein Doktoratsstudium in Museumswissenschaften absolviert. Mit Master-Abschlüssen in Museumsmanagement und Museumspädagogik hat sie zu renommierten Institutionen wie der IKSEV (Izmir Stiftung für Kultur, Kunst und Bildung), dem Liechtensteinischen Landesmuseum, dem Erimtan Archäologie- und Kunstmuseum, dem Archäologischen Museum von Thessaloniki und dem preisgekrönten Baksı Museum beigetragen. Özdemir zeichnet sich durch das Kuratieren von Ausstellungen, die Organisation ansprechender kultureller Veranstaltungen und die Entwicklung innovativer Bildungsprogramme aus. Ihre Arbeit, die sich über die Türkei, Liechtenstein und Griechenland erstreckt, spiegelt ihre Leidenschaft für Stadt- und Regionalforschung, Kunstkritik und partizipative Museumsprogramme wider.