Auf dem 80 000 m² umfassenden Grundstück und in den 22 000 m² großen Hallen der ehemaligen Eisengießerei Carlshütte in Büdelsdorf befindet sich das Kunst- und Kulturzentrum Kunstwerk Carlshütte. Zwischen Juni und Oktober wird das Gelände regelmäßig zum »Epizentrum« zeitgenössischer Kunst aus aller Welt: Dann findet hier die NordArt statt, dieses Jahr bereits zum 24. Mal. 

Wolfgang Gramm kuratiert gemeinsam mit Inga Aru die spektakuläre Schau seit deren Geburtsstunde. Sowohl Gramm als auch Aru sind bildende Künstler und stellen sich im Rahmen dieses von Jahr zu Jahr wachsenden Formats voll und ganz in den Dienst der Sache. »Kunst sucht Antworten auf alles, was den Menschen bewegt und berührt. Und der Mensch kann Antworten in der Kunst finden«, betont Wolfgang Gramm im Gespräch mit uns. Er meint weiter: »Vor dem Hintergrund einer aus den Fugen geratenen Welt ist es deshalb nur zu verständlich, dass die Bilder und Skulpturen, Fotografien und Installationen nicht nur persönliche wie gesellschaftliche Zusammenhänge und Entwicklungen beleuchten, sondern dass diese auch durch die gemeinsame Hoffnung getragen werden, verloren gegangene Werte zu bewahren oder eine bessere Welt zu schaffen.«

Carlshütte, Halle IV, von links: XIAO Jin, REN Rong, ZENG Chenggang, © www.nordart.de, Fotos: Jörg Wohlfromm

Die Ausstellung mit Werken von 200 ausgewählten Künstlerinnen und Künstlern aus insgesamt rund 3 000 eingehenden Bewerbungen erstreckt sich über das großzügige Areal samt Skulpturenpark und Bespielung der Wagenremise sowie Eisengießerei; für die kleine Stadt Büdelsdorf mit rund 10 000 Einwohnern ein alljährlicher Publikumsmagnet. Beeindruckend ist sowohl die Selbstverständlichkeit der Vielfalt der Werke, die hier im Kontext zueinander gezeigt werden, als auch die ansehnliche Größenordnung der Skulpturen, Installationen und Gemälde. Die Kuratoren scheuen keine Mühen, überdimensionalen Werken entsprechenden Raum zu geben. Sie legen die Ausstellung gekonnt in reizvollen Blickwinkeln an, sodass sich während des Durchgangs immer wieder überraschende Fluchten und »Welten« auftun, die zum Nachdenken anregen und inhaltliche Zusammenhänge erkennen lassen. Keiner hier – und das lässt sich beim Beobachten der Besucherinnen und Besucher wahrnehmen – verspürt eine Hemmung, mit der Kunst in einen Dialog zu treten, sich von dieser berühren zu lassen und mit dieser auseinanderzusetzen. Durch die Vergabe des Publikumspreises wird seitens des Kuratoriums bewusst Wert auf die Meinung des Betrachters gelegt. Dies unterstreicht den demokratischen Zugang.

Carlshütte, Halle III, Lubo Mikle (Slowakei) KUVYT, montiertes Objekt, 630 x 630 x 630 cm, © www.nordart.de, Fotos: Jörg Wohlfromm

Im Vorjahr war Michał Jackowski einer dieser Publikumspreisträger der NordArt. Er bekam in diesem Jahr die Möglichkeit, eine speziell für die Ausstellung konzipierte Arbeit zu präsentieren. Als Kurator dieses Sonderprojekts mit dem Titel »Antike Spiele« fungierte der polnische Kunsthistoriker Jan Wiktor Sienkiewicz. Entstanden ist eine visuelle Beschreibung der zeitgenössischen Kultur, die vom Konsum beherrscht wird. Der Bildhauer spielt mit dem Kontrast zwischen antiken Formen und Elementen aus der Popkultur des 20. Jahrhunderts. In einer Art Moralspiel stellt Jackowski Fragen nach universellen Werten und Gesetzen. »Das Werk bezieht sich auf die Erfahrung schmerzhafter Ungewissheit, hervorgerufen durch das Streben der Konsumenten nach Maximierung des Vergnügens und einhergehend mit dem Bewusstsein, den Horizont der Befriedigung ungeachtet aller Bemühungen niemals erreichen zu können«, erklärt Sienkiewicz.
Ein Markenzeichen der NordArt seit deren Anfängen ist zeitgenössi­sche Kunst aus China. Die langjährigen Kontakte zur chinesischen Kunstszene ermöglichen es Wolfgang Gramm und Inga Aru, jedes Jahr namhafte Künstlerinnen und Künstler einzuladen. Unter anderem sind in diesem Jahr Werke von Yue Minjun, Xiang Jing und Zhou Song zu sehen. Yue Minjun gilt als einer der führenden chinesischen Avantgardisten. Eines seiner wiederkehrenden Sujets sind die lachenden Gesichter. In der Skulpturenreihe »Looking at the Sky« führt Yue riesige, orientalisch anmutende männliche Figuren vor, deren Lachen ihre muskulösen Körper verzerrt. Dank enger Badehöschen bewahren sie gerade noch den Anstand, ihre weit aufgerissenen Münder enthalten zu viele Zähne, jeder Muskel unter ihrer Stahlhaut wird von feinen Schweißnähten betont. Die Gestalten wirken verstörend sanftmütig, gleichzeitig aber auch gnadenlos und lächerlich. Ihr Lachen erscheint gequält, geradezu schmerzhaft. Man ist versucht, sie als soziale oder politische Metaphern zu lesen, deren Superkräfte genau dieser Ambivalenz entspringen.

Michał Jackowski (Polen)  ANTIQUE GAMES, © www.nordart.de, Fotos: Jörg Wohlfromm

Der Träger des NordArt-Preises 2022 ist Liu Ruowang. Er war 2016 Fokuskünstler der NordArt und erhielt im selben Jahr den Publikums-preis. Seitdem sind viele seiner Hauptwerke auf dem Gelände zu Hause und gingen von dort auf Tournee zu europaweiten Kooperationspartnern. Liu Ruowang hinterfragt Ursprung und Herkunft der Menschheit, den Sinn des Daseins und die Lebensaufgabe des Einzelnen. Arbeiten wie »Wolves Coming«, »Original Sin« und »Dodo« stellen die Frage nach dem Wert des Ursprünglichen und dessen Bedrohung durch die Errungenschaften der Zivilisation. Obwohl Leben mit Evolution einhergeht, beinhaltet dies nicht selten auch die Tragik negativer Aspekte. Dennoch das Schöne wahrzunehmen, konsequent, hoffnungs- und sehnsuchtsvoll daran festzuhalten und nach steter Optimierung im Laufe der fortschreitenden Zivilisation zu streben, dazu ruft Liu Ruowang mit seinen Werken auf. Von einer Europa-reise brachte Liu Ruowang seinem Kind eine Pinocchiofigur mit. Seitdem kreisten die Worte »Puppe« und »Lüge« quälend durch seinen Kopf, was ihn 2019 zur Figurengruppe »Mr. Pinocchio« inspirierte. In außerordent-lichen räumlichen Dimensionen voller Symbolik und Metaphern drückt der Künstler heikle Verhältnisse der modernen Gesellschaft aus. Den Pinocchio in der Mitte umkreisen ewig ahnungslose Zeitgenossen, herkömmliche Rollen von Manipulator und Manipulierten werden vertauscht. Seelenlose »Menschen« haben die Kontrolle über das seelenlose »Ding« verloren. Der Künstler warnt vor den makellosen Lügen, die materielles Begehren befeuern. Er fordert dazu auf, die Fesseln des Materialismus abzulegen und zum authentischen Leben zurückkehren, gibt Denkanstöße zu Herkunft und Wesen der Lüge.

David Černý (Tschechische Republik) Quo Vadis, Bronze, 350 x 330 x 165 cm, hinten: LIU Ruowang (China) Mr Pinocchio, Cortenstahl, H: 600 cm, © www.nordart.de, Fotos: Jörg Wohlfromm

Traditionell lädt das Kuratorium des großzügigen Ausstellungsformats auch jedes Jahr ein Gastland ein. Dieses Jahr fiel die Wahl auf die Tür­kei. Der Länderfokus 2023 präsentiert Werke von 17 Künstlerinnen und Künstlern. Kemal Tufan, Kurator des Türkischen Pavillons, beschreibt die kuratorische Herangehensweise wie folgt: »Die Türkei ist ein Land der Kontraste und Konflikte, sowohl was ihre geopolitische Lage als auch ihre soziokulturelle Situation betrifft. Die Künstler leben in einem komplexen und oft widersprüchlichen Umfeld und sind den extremen Gefühlen von Freude und Schmerz ausgesetzt. Im Grunde feiert der Türkische Pavillon die Kraft der Kunst, uns zu befreien, zu heilen und zu erheben. Die Kunst wird zu einem Leuchtturm der Hoffnung im Angesicht einer Weltordnung, die von Grausamkeit und Ungleichheit geprägt ist.«
Beispielhaft dafür sind die Skulpturen von Ayla Turan. Indem die Künstlerin Gegenstände und Figuren aus dem täglichen Leben mit einem kindlichen Ansatz abfasst, lenkt sie die Aufmerksamkeit der Betrachter gekonnt auf die Details und die Bedeutung der gesellschaftlichen Themen, die ihre Motive umgeben. Ihre Skulpturen muten dynamisch, gar amüsant an. Dadurch vermitteln diese ein authentisches Gefühl von Bewegung, was ein wichtiger Aspekt ihrer Arbeit ist. Turan untersucht mit einem minimalistischen Ansatz die soziologischen, theologischen, psychologischen und kulturellen Aspekte, die Kinder prägen. Mit ihrer glatten und weißen Ästhetik fängt sie die Lebendigkeit, Unschuld und Reinheit der Kindheit ein.

 Ayla Turan (Türkei) Stiltswalking Children, Polyester H: 500 cm, Erdil Yaşaroğlu (Türkei) Stray Dog, Polyester, 300, © www.nordart.de, Fotos: Jörg Wohlfromm x 900 x 300 cm

Weitere bildhauerische Werke, die dem Publikum sicherlich in Erinnerung bleiben, sind jene des aufrührerischen tschechischen Künstlers David Černý. Seine Arbeiten stehen in einem gesellschaftskritischen Kontext. Die unabhängige Kulturszene der späten 1980er-Jahre hat Černýs künstlerischen Weg stark geprägt. Das erste öffentlich diskutierte Werk war »Quo Vadis«, das einen Trabant mit vier Beinen darstellt. Mit dieser Skulptur würdigte Černý die Vorkommnisse vom September 1989, als tausende DDR-Bürger in die deutsche Botschaft in Prag flüchteten und dabei ihre Trabis in Prag zurückließen.
Die Skulptur »Water« von Veronika Dierauer thematisiert das Wasser als Lebensgrundlage der Existenz aller Lebensformen. In gebundener Form einer zerdrückten PET-Flasche weist die Künstlerin aus der Schweiz auf die Nutzung von Ressourcen und die Thematik mit Abfall hin. Die Wahl des Materials Marmor symbolisiert die dekadente Konsumgesellschaft. Die strukturelle Optik des Steins erscheint wie das Brechen von Licht im Wasser. Ihre Arbeit versteht sie als versteinerte Momente. Die Gestaltung bewegt sich zwischen Realität, Fiktion, Designobjekten, Ambivalenz und Irritation.

Installativ beeindruckt das Projekt KUVYT von Lubo Mikle aus Bratislava. Die scheinbar schwebende Installation bietet eine alternative Perspektive im Umgang mit der weit verbreiteten, anhaltenden Angst während der Pandemie. Zu Beginn des Projekts fungierten sechs separate Blöcke als offene Zugangsportale, Aussichtspunkte mit Stadtpanorama, psychologische »Dekompressionskammern« und Kulturplattformen. Jede Kabine bot ein einzigartiges Themenmenü. Am Ende wurden die sechs Kuben zu einem Objekt zusammengeführt; eine Sammlung Tausender von Geschichten, die die seltsam dunklen Zeiten dokumentieren.
Malerisch gibt es auf der NordArt ebenfalls einige Besonderheiten zu entdecken. Beispielsweise die Gemälde der amerikanischen Künstlerin Madeline von Foerster, die eine von den flämischen Renaissancemeistern entwickelte, fünf Jahrhunderte alte Mischtechnik aus Öl und Eitempera verwendet. Die Werke erforschen die Beziehung des Menschen zur Natur und thematisieren dramatische Übergriffe wie Abholzung, Wildtierhandel und vom Menschen verursachtes Aussterben. Ebenso ziehen die Leinwände von Rolf Ohst die Blicke des Publikums an. Die überwiegend in Öl gemalten Bilder zeichnen sich durch sorgfältige Detailarbeit und Feingefühl für das Material des Objekts, oft aber auch durch hintergründigen Humor oder Gesellschaftskritik aus. Das Hauptthema des deutschen Künstlers ist die Gier. Alle entstandenen Bilder sind entsprechend großformatig und zeigen schwer adipöse Menschen. Körperfett als Symbol für die grenzenlose Einverleibung des »Immer-Mehr«. Auch diese Arbeiten sind darauf ausgelegt, die Auswüchse des menschlichen unstillbaren Konsumhungers deutlich zu machen.

Carlshütte, Halle III, Rolf Ohst (Deutschland) Venice, Öl/Lw, 150 x 190 cm Earth, Öl/Lw, 200 x 640 cm Big Deal, Öl/Lw, 110 x 160 cm, © www.nordart.de, Fotos: Jörg Wohlfromm

Fast intuitiv lassen sich die ausgestellten Werke zu einer gemeinsamen Erzählung verweben, auch wenn der individuelle künstlerische Ausdruck unterschiedlicher kaum sein könnte. Wolfgang Gramm und Inga Aru sehen genau diesen Aspekt als wichtige Herausforderung: »Künstlerinnen und Künstler in aller Welt sind auf dem Weg, um aus den Erfahrungen der Vergangenheit Träume für die Zukunft zu bauen. Sie setzen neue Utopien gegen die Hoffnungslosigkeit. Das Bemerkenswerte dabei ist: Es sind die-selben Themen, die die Kunstschaffenden in Nord und Süd, Ost und West umtreiben. Selbst wenn die Perspektiven unterschiedlich sein mögen, die Sorgen und Hoffnungen gelten doch dieser einen Welt.«