Über Simone Pellegrini und die Geister, die er rief.

Der in Ancona geborene und im Umfeld der archäologischen Berufung seiner Mutter aufgewachsene Simone Pellegrini (*1972) entdeckte bereits als Kind eine Insel der Fähigkeiten: das glückliche Händchen fürs Zeichnen. Um diese Fähigkeit herum tobte ein ganzer Ozean, doch es gelang ihm, auf seiner Insel zuverweilen und diese zu aktivieren.

Pellegrinis Arbeit, so erzählt uns der Künstler bei einem Atelierbesuch in Bologna, kann nicht als zeitgenössisch definiert werden; insbesondere in Italien nicht, wo eine sehr modische Vorstellung von Kunst herrsche, die das Ergebnis seiner Schaffenskraft nicht einschließe. »Mein Werk wurde von den Galerien als dermaßen grenzwertig empfunden, dass mir an einem bestimmten Punkt bewusst wurde: ich muss mich einer anderen Welt öffnen.« Diese Öffnung führte ihn zur Art Brut. Pellegrini kann nicht der Art Brut zugeordnet werden; einerseits aufgrund seiner akademischen Ausbildung und andererseits wegen des Umstandes, dass er an der Akademie lehrt. Seine Außenseiterrolle im zeitgenössischen Kontext bringt ihn jedoch auf diese Spur. Und prompt wurde sein Werk in Paris, New York und auch im museum gugging in der Nähe von Wien gezeigt.

 

Der Künstler Simone Pellegrini in seinem Atelier in Bologna © Annalisa Patuelli 2018

 

»Ich versuche in gewisser Weise, die räumliche, formale, figurale Dimension zu verdeutlichen und erst nach außen zu gehen, nachdem ich eine Reihe von Materialien angesammelt habe, die im Grunde Wissen sind. Ich mag es, mich klar zu entfalten. Und wenn ich merke, dass es mir tatsächlich gelingt, lehne ich mich wieder aus dem Fenster, um mein visionäres Ich zu treffen. Erst dann spüre ich Erfolg«, erklärt Pellegrini. Der große italienische Theaterregisseur Carmelo Bene (1937–2002) pflegte zu sagen: »Die Kunst verdient keine Geschichte.« Auf der Kunstschule wurde Pellegrini jedoch das Gegenteil da- von beigebracht: Die Geschichte der Kunst ist eine gerade Zeitlinie in dem Sinne, dass das an der Spitze Stehende stets nach den Dingen kommt, die davor existiert haben. »Aber ist das überhaupt so?«, hinterfragte Pellegrini schon in jungen Jahren. Die ähnliche Frage beschäftigte wohl auch André Malraux (1901–1976), als er sich sein imaginäres Museum vorstellte. »Er dachte an eine Art heilige Kunst. Er dachte, dass alles, was er für Kunst hält, an einem Ort sein könnte; egal aus welcher Zeit es stammt; egal aus welchem Jahrhundert oder aus welchem geografischen Gebiet. Diese Idee des imaginären Museums, die Malraux hatte, finde ich absolut faszinierend und treffend«, betont Pellegrini. Früher hat er darunter gelitten, dass sein Werk nicht als zeitgenössisch wahrgenommen wurde. Heute hingegen hält er diese Tatsache für eine große Chance und geht offen damit um: »Ich habe die Geschichte von Adolf Wölfli (1864-1930) gelesen und fand es so faszinierend, dass so viel Brutalität, gar Gewalt in derart harmonischen Schriften, Musik und Zeichnungen münden kann. Sein Werk ist ein hervorragendes Beispiel für einen Schlag gegen die klassische Vorstellung: dass Schönheit zwingend der Schönheit entspringt. Viel inte­ressanter ist doch die Fragestellung, was ist, wenn Schönheit von etwas Abgründigem, etwas Schmutzigem ausgeht?«

An unserer bisherigen Konversation erkennbar und auch an der Unmenge von Büchern im Atelier ersichtlich: Schon seit seiner Jugend verschlingt Simone Pellegrini Bücher und Fachzeitschriften. Er ist neugierig. Es ist für ihn unerträglich, zu wissen, dass es so Vieles gibt, das er noch nicht gelesen hat.

Zu seinen Lieblingsautoren zählen unter anderem Albert Camus, Roberto Bolaño, Clarice Lispector, Ingeborg Bachmann, Franz Kafka, die Philosophen Deleuze, Wittgenstein, Heidegger, Foucault, Spinoza, Agamben. Unter den Psychoanalytikern hebt er Lacan hervor. Bei den spirituellen Texten liegen ihm San Juan de la Cruz, Meister Eckhart und die Kabbala am Herzen. Die Poesie schätzt er, weil in ihr der Sprache eine absolut schöpferische Qualität zukommt. Hier liest er bevorzugt Werke von Majakowskij, Cvetaeva, Bloch, Esenin, Plath, Ponge, Benn, Walcott, Jabès, Brodsky, um nur einige aufzuzählen. Textzeilen, die ihm besonders wichtig sind – gerade gelesene oder durch das Lesen inspirierte – schreibt er an die Wände seines Ateliers. Und so »sprechen« diese Wände immer wieder zu ihm, je nachdem wohin sein Blick hinfällt.

Auch wenn der Künstler dem geschriebenen Wort zugetan ist, entspringen seine Bilder unmittelbar dem Überfluss des Wortes. »Wenn das Wort nicht mehr kann, wenn ich spüre, dass es ermüdet ist, dann beginne ich zu zeichnen.« Und so lehrt es Pellegrini auch an der Akademie in Bologna den Studenten: »Ihr dürft nie den Eindruck erwecken, dass ihr aus der Sprache rausgeworfen worden seid, sondern ihr müsst den Eindruck erwecken, dass ihr sie ausgeschöpft habt. Und gerade weil ihr sie aus- geschöpft habt, müsst ihr auf eine neue Sprache zurückgreifen, eine neue Sprache konstruieren. Wenn man diese Grenzen einmal ausgetestet hat, dann gerät man vielleicht in die Nähe dessen, was Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831) die schlechte Unendlichkeit nannte: Man denkt, man geht auf eine Unendlichkeit zu; stattdessen geht man einfach von Grenze zu Grenze. Man erlebt höchstens die Endlichkeit. Das ist absolut menschlich.«

 

Simone Pellegrini, Chiavarda atta, Mischtechnik auf Papier, 79x145 cm, 2020 (der Originaltitel enthält zwei Kommas) © Enrico Benedettelli 2020

Pellegrini verbringt viel Zeit damit, zu verstehen, wie er seine Zeichen und Formen revolutionieren kann; um in einem nächsten Schritt zu begreifen, wohin sie ihn führen. Lange Zeit war er davon überzeugt, dass das, was er tut, ihn auf Formen stoßen lässt, die außerhalb einer zugeschriebenen Bedeutung liegen. Sein »großes Loslassen und Annehmen« erfasste ihn stattdessen in dem Moment, in dem er zur Erkenntnis gelangte, dass jene Dinge eine Form finden, die er nicht versteht; die nicht Teil eines Wissens oder einer Bedeutung an sich sind.

 

Simone Pellegrini, Setsa farsía (Mischtechnik auf Papier, 144×375 cm, 2022) in der Einzelausstellung im MUSEC in Lugano "SIMONE PELLEGRINI. Eine anarchische Geographie" © FCM/MUSEC, Lugano 2023

Die französische Philosophie hat einen großen Einfluss auf den Künstler, vor allem Gilles Deleuze (1925–1995). »Wenn Gilles Deleuze Vorlesungen über Michel Foucault hält, beginnt er an einem bestimmten Punkt, über etwas Seltsames zu sprechen: über das Außen. Das Außen, das kein lokalisierbares Außen ist, aber Kräfte, die sich bewegen. Sie sind wie klei- ne Brutstätten und an einem bestimmten Punkt strukturieren sie sich zu einem Etwas. Und dieses Etwas, das strukturiert ist, schafft den Eintritt in die Realität, geht vom Außen in die Realität oder vom Realen in die Realität über, aber sein Eintritt wird nicht unmittelbar metabolisiert.« Simone Pellegrini interessiert genau dieser Übergang. Er versetzt sich in diese metabolische Randzone hinein. Dort gibt es ein Außen, das im Begriff ist, wahr zu werden; etwas Mögliches, das im Begriff ist, sich zu verwirklichen.

»Yves Bonnefoy (1923–2016) formuliert, dass der einzig wahre Gedanke jener ist, der das Undenkbare denkt. Und das sind Dinge, die ich erst erfahren konnte, als ich mit Zeichen und Bedeutungen gearbeitet habe. Zeichen und Bedeutungen, die Hand in Hand gingen. Ich begann zu erfahren, zu akzeptieren, dass es Dinge gibt, die eben keine Bedeutung haben«, beschreibt der Künstler.

Am liebsten liest Simone Pellegrini im lebhaften Umfeld einer Bar. Dort, wo Chaos herrscht, baut er eine imaginäre Schutzwand auf, die ihm hilft, sich zu vertiefen. Sobald der Inhalt anspruchsvoll wird, manchmal sogar zu albern, zu überspitzt, dann lässt er spontan los und beginnt, auf den leeren Seiten des Buches zu kritzeln. Es entstehen Formen, nicht in einem bewusst zeichnerischen Akt, sondern Pellegrini stellt sich vielmehr für den Entstehungsprozess zur Verfügung. Irgendwann finden die Formen in seinen Werken zueinander.

Seine Arbeiten entstehen »indirekt«. Er zeichnet mit Holzkohle nicht direkt auf das Papier, sondern auf Papierfragmente, die er Matrizen nennt. Die kleinen Papiere sind wie ein Filter, durch den er niemals direkten Kontakt mit dem Trägerpapier hat. Dann gießt er Leinöl darüber und presst die zuvor pigmentierten Zeichen mit einem Eisengegenstand auf das Papier, der einem Stempel ähnelt. Im Ergebnis eine Parataxe von Negativen. »Es sind alles Negative, Bruchstücke, die hier eine artikulierte Dimension annehmen; die hier beginnen, sich zu artikulieren. Diese Stücke, die da am Boden liegen, sind die eigentlichen Originale«, erklärt Pellegrini.

Die von ihm verwendeten Farbpigmente sind Rot und Schwarz. Das aufmerksame Auge kann jedoch beobachten, dass andere Farbnuancen und Farbpartikel auf dem Papier zu finden sind. Jedes Trägerpapier besteht aus abgerissenen und zusammengeklebten Stücken, um eine spezielle Oberfläche zu generieren. Simone Pellegrini macht das Papier zu seinem Papier, das seine Nähte, seine Zeichen, seine Narben hat. Nina Katschnig, die den Künstler mit ihrer galerie gugging vertritt, beschreibt dieses Phänomen im Katalogtext zur Ausstellung wie folgt: »Seine Papiere, die für ihn eine eigene Identität haben, sind jedoch niemals leer, bevor er seine Zeichen und Formen aufbringt. Sie sind für ihn gefüllt mit Geistern und durch die Formen entscheidet sich schließlich, welche Geister das Papier verlassen müssen.«

Pellegrini selbst erkennt bei diesem Prozess mindestens zwei Anomalien: »Die Tatsache, dass ich eine kontinuierliche und bereits vorhandene Oberfläche hätte verwenden können und es nicht tat; die Tatsache, dass ich direkt auf dem Papier hätte zeichnen können und es nicht tat.« Diese Anomalien führen zum Zufall, der das Zeichen plötzlich zu seinem macht; aber in Wirklichkeit auch zu dem eines anderen. So wird eine Art Geist hineingelegt, durch den auch diese eine Farbe entsteht, die nicht Rot oder Schwarz ist. Als ob an einem bestimmten Punkt Farbpunkte auftauchen, die eine Ausdehnung erfahren, die man als unbekannt einstufen könnte. »Ich bin nicht so sehr daran interessiert, die Idee des Alten zu vermitteln. Das ist aber zugleich etwas, dem ich nicht ausweichen kann, ganz einfach.« Vollständig ist ein Werk in seinen Augen nie. Vielmehr ist er selbst an einem bestimmten Punkt erschöpft. Er zitiert an dieser Stelle Cézanne: »Ein Werk ist nie fertig, ein Werk muss aufgegeben werden, das war's!«

Simone Pellegrini, Posa della sittittante, Mischtechnik auf Papier, 82x152 cm, 2021 © Enrico Benedettelli 2021