KOSMOS EURYTHMIA MATHEMA VERA

Vera Koppehel ist eine interdisziplinäre KÜNSTLERIN, die seit Jahren auf internationaler Ebene eine Bewegungskunst praktiziert und verbreitet: die Eurythmie. Die Eurythmie bringt Performativität und Wissen in das Spiel eines kosmischen Tanzes. Dieser Tanz ist Kunst, Abbild, Vorbild, Spiel, Bewegung und Sein zugleich. Die Kunstform der Eurythmie ist zu Beginn des letzten Jahrhunderts entstanden und das Ergebnis einer glücklichen Verbindung zwischen im ersten Jahrzehnt des letzten Jahrhunderts aktiven esoterisch-philosophischen Strömungen und dem Interesse, das viele Künstler dieser Zeit für die Erprobung von Bildsprachen entwickelten; diese haben sich zunehmend von den konventionellen Formen der Darstellung der Wirklichkeit emanzipiert. Bekannte Künstler wie Wassily Kandinsky oder Piet Mondrian standen eine Zeit lang in engem Dialog mit dem Denken eines der bedeutendsten Vertreter dieser Bewegungen: Rudolf Steiner. Zufall war es keiner, dass sie jenen abstrakten Prozess in Gang zu setzen strebten, der auf unausweichliche Weise zu einer radikalen Veränderung der Wahrnehmung und Darstellung von Natur und Raum beitragen sollte, sowie die Art und Weise unserer Wahrnehmung von Wirklichkeit und Schaffung von Kunst revolutionierte. Neben diesen bekannten Künstlern gab es eine Reihe von Künstlerinnen, die erst in den letzten Jahren wiederentdeckt wurden. Der Hamburger Bahnhof in Berlin, das Guggenheim Museum in New York und die Serpentine Gallery in London haben ihnen wichtige Retrospektiven gewidmet. Ebenjene Künstlerinnen hielten sich länger innerhalb dieser Bewegungen auf und nahmen ihre ganze geistige Haltung in Bezug auf ihre Berufung bis hin zu dem Punkt auf, dass sie diese mit Stilen und existentiellen Modellen zusammenbrachten.

ICH / Eurythmische Imaginationen zu einer Wandtafelzeichnung von Rudolf Steiner.
Bühnenbild cosmic memories: Olaf Auer. Fotos: Charlotte Fischer

Die schwedische Malerin Hilma af Klint (1862–1944) sowie die russische Künstlerin Margarita Voloshina-Sabashnikova (1882–1973), die erste Frau des Dichters Maximilian Voloshin: auch sie kamen mit Rudolf Steiner in Kontakt und arbeiteten mit ihm auf dem Dornacher Hügel in der Schweiz zusammen. Hilma af Klint hat zudem mit der Schweizer Künstlerin, Wissenschaftlerin und Heilerin Emma Kunz (1892–1963) die Praxis einer abstrakten Kunst gemeinsam – ante litteram –, die sie am Rande ihrer manifesten Interessen ausübten; Übungen der aktiven Vorstellungskraft, wie Carl Gustav Jung sagen würde, der in denselben Jahren und unter absoluter Geheimhaltung am Liber Novus arbeitete. Diese Werke sollten viele Jahre nach ihrem Tod wieder auftauchen, im Fall der af Klints durch ausdrücklichen testamentarischen Willen.

Für Vera Koppehel wurde die Saat des eurythmischen Tanzes bei einem sehr präzisen Ereignis gepflanzt. Es liegt einige Jahre vor dem Datum, das üblicherweise für den Beginn dieser neuen Form der Bewegungskunst angenommen wird. Ausgearbeitet auf Anregung des Gesellschaftsreformers Rudolf Steiner mit seiner Studentin Lory Maier-Smits im Jahr 1911. Diese Bewegungskunst wurde auf verschiedene Weise aufgegriffen und in den 1920er-Jahren von Steiner selbst in einer berühmten  Vortragsreihe von 1924 vertieft, die er ein Jahr vor seinem Tod in Dornach hielt. Deren Mitschriften gelten als eine Art Handbuch für alle, die sie studieren wollen. Veras Inspirationsquelle liegt in einem Ereignis von 1908 als Rudolf Steiner die Malerin Margarita Voloshina nach seiner Ausführung über den Anfang des Johannes Evangeliums fragte: »Könnten Sie das tanzen? « Dies war für Vera Koppehel die Initialzündung zu der Erkenntnis DENKEN IST BEWEGUNG und man kann diese Gedankenformen ins Sichtbare bringen.

Vera Koppehel, EURYTHMIE IM MUSEUM, 3×3 Sequenzen zu Wassily Kandinskys 150. Geburtstag am TAG DES BLAUEN REITERS in der Fondation Beyeler / Riehen, Foto: Stefan Pangritz (Kunstwerk im Hintergrund Wassily Kandinsky, Komposition VII, Staatliche Tretjakov Galerie, Moskau)

Vera Koppehel, EURYTHMIE IM MUSEUM, 3×3 Sequenzen zu Wassily Kandinskys 150. Geburtstag am TAG DES BLAUEN REITERS in der Fondation Beyeler / Riehen, Foto: Stefan Pangritz (Kunstwerk im Hintergrund: Franz Marc, Die Wölfe, Albright Knox Gallery, Buffalo)

 

Die Eurythmie in deren Anfängen wird von Steiner weder als einfache Gestenkunst – die in anspielungsreicher Weise die Unzulänglichkeit des Wortes kompensiert – noch als einfacher Tanz verstanden, in dem sich der reine Ausdruckswille ohne Worte aufdrängt. Die Eurythmie liegt auf halbem Wege zwischen diesen beiden Polen und drückt sich als Ausdrucksgeste aus, die der Sprache gleichkommt. Allerdings – und das ist der bemerkenswerte Unterschied –, »wie bei der Sprache ist die Luftgeste unsichtbar«.

Steiner spricht in diesem Zusammenhang von »Gedankenwellen«, die sich in der Luft wie die unsichtbaren Gesten der Sprache manifestieren, die in deren Betätigung die Luft bewegen und hörbare Schallwellen verursachen. Es geht darum, mit und in der Bewegung zu denken.

Zwischen der Entfaltung des innehaltenden Wortes – das noch nicht bereit ist, sich für den Erhalt eines neuen Sinns im Klangkörper zu inkarnieren – und dem glitzernden Erlöschen des Atems – der durch die Verbindung mit der Unmöglichkeit des Auftauchens des Verbs dämpft – erwacht zwischen diesem unsichtbaren Raum eine Sprache zum Leben, die den Mangel mit Gesten gestaltet. Mangel soll hier nicht mit der Sehnsucht nach etwas Verlorenem verwechselt werden, dessen Wiederentdeckung herbeigesehnt wird. Stattdessen ist dieser als ein radikales und ursprüngliches Gefühl zu verstehen, das auf das Ungeschaffene verweist. Die Eurythmie ist eine poetische Sprache. Diese ist ein Gedanke, der mit der Geste denkt, mit der Zeit zusammenarbeitet, der Bewegung erzeugt und mit dem Raum eine unsichtbare Geometrie bestimmt. Die Eurythmie wirkt dort, wo Bilder und Worte nicht wirken können. Sie deckt keine Inhalte ab und stellt keine ästhetischen Ideen dar; sie ist nicht analog, symbolisch oder metaphorisch. Vielmehr erzeugt sie eine Form von Sprache, mit der ein Körper gleichzeitig agiert und Akteur ist. Wenn sie über die  Jahrhunderte mit Bildern, Musik oder Worten in Beziehung trat, tat sie dies, indem sie das Unsichtbare zeigte, das diesen Formen des Denkens vorsteht. Sie stellte durch bewegte Formen die Energie der Ausbreitung des Klangs, die unsichtbaren, von der Bewegung des Körpers im Raum gezeichneten Geometrien und den Sinn des Wortes in dessen Konstitution im Handeln dar. Die der Kodifizierung dieser Ausdrucksformen zugrunde liegende Komplexität beruht auf strengen Grundlagen, die in den Schriften und Vorträgen Rudolf Steiners nachweisbar sind. Diese zielen darauf ab, ein komplexes System von Verbindungen mit anderen Kunstformen zu schaffen. Zu der Zeit von Steiners Vorträgen hatte Einstein bereits seine Relativitätstheorie veröffentlicht und die Quantenphysik stand kurz vor deren ersten Schritten. Nach dem Niedergang der Episteme der westlichen Wissenschaft im 19. Jahrhundert hatte sich das Theater aller Ereignisse in der physischen Welt verändert. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts – im Lichte der neuen Eigenschaften des Raum-Zeit-Kontinuums und der Unschärferelation der Quantenphysik – war die kopernikanische Revolution mit der Entfernung des Menschen aus dem Zentrum der Schöpfung vollständig vollzogen. Heute wissen wir, dass wir alle Teil eines einheitlichen Kosmos oder – wenn wir mit den Füßen auf dem Boden bleiben – einer Biosphäre sind, in die der Mensch ebenso wie andere lebende und nicht lebende Wesen eingebunden sind. Wir wissen, dass es kein Zentrum gibt. Alle Dinge sind miteinander verbunden und beeinflussen sich gegenseitig. So etwas wie eine getrennte Einheit gibt es nicht. Wellen und Teilchen sind nicht getrennt, sondern stehen in einer ständigen dynamischen Beziehung zueinander. Um es mit Vandana Shiva zu sagen: Das Kontinuum sorgt für eine ständige Interaktion zwischen Einsen und Teilchen in einem Zustand der fortwährenden Schöpfung.

Vera Koppehel trägt diesen Paradigmen Rechnung, indem sie mit einer Verkettung anderer bezeichnender Elemente wie Licht, Raum, Klang, Metall und Farbe spielt. Ihre Bewegungen haben mit dem unendlich Kleinen zu tun, aus dem die Materie sich zusammensetzt. Diese halten mit den Körpern, mit denen diese in Beziehung stehen, eine ständige Spannung aufrecht; selbst wenn die »Geste« in sich selbst in der Stille zu ruhen scheint. Vielleicht, so fragt sich der britische Bildhauer und Künstler Antony Gormley, gibt es jenseits des alten newtonschen Modells – das die Wahrnehmung eines absoluten, im Raum positionierten Objekts voraussetzt – Möglichkeiten zur Wiederherstellung eines grenzenlosen Körpers, indem der Artikulation eines Energiefeldes im Raum eine Form gegeben wird. Der Tanz ist ein Energiefeld in Bewegung, wie Gormleys Skulptur, nachdem er die Lektion der Quantenmechanik gelernt hat. Dies ist die getanzte Demonstration der hartnäckigen ontologischen Frage nach dem Sein der Entität vor uns, die sich mit den Worten Martin Heideggers aus dem bekannten Essay »Der Ursprung des Kunstwerks« (1950) »inmitten der Entität in ihrem Ganzen« in einem »offenen Zentrum (...) – das wie das Nichts, kaum bekannt – jede Entität umgibt« befindet.

Vera Koppehel weiß wie Wassily Kandinsky, dass die Kräfte der Natur durch die Schaffung von Formen gezeigt werden können, die keine bloßen Abbilder der Schöpfung sind – dies zeigen u.a. die Arbeiten »Il passaggIO« von 2013 oder »Inversion 3:1« aus dem Jahr 2014. Eine andere amerikanische Künstlerin versuchte seit den 1960er-Jahren ihr ganzes Leben lang, die visuelle Wahrnehmung der vierten Dimension – der Zeit – auf der zweidimensionalen Ebene des Blattes wiederherzustellen. Im Streben danach schuf sie eine Reihe von Werken, die sie »Sonakinatografie« nannte. Diese Künstlerin hieß Channa Horwitz. Wie Emma Kunz arbeitete sie auf Millimeterpapier und versuchte, einem Energiefeld eine Form zu geben. Dabei hinterließ sie eine unzählige Reihe von Partituren, die durch Tanz, Musik, Wort und Farbe willkürlich aufgeführt werden konnten. Die wesentliche Abweichung von Vera besteht jedoch in ihrer Zusammenarbeit mit modernen Kunstformen, die heute mehr denn je auch den Einsatz von Technologie beinhalten.

Die Eurythmie ist eine Bewegungskunst, die in Italien kaum bekannt ist und wenig praktiziert wird; allerdings gilt dies nicht nur für Italien. Es erstaunt, dass diese bei den jedes Jahr in Italien stattfindenden zahlreichen Festivals für zeitgenössischen Tanz bisher keinen Platz gefunden hat. Dabei ist diese Körpersprache nicht um einen gewissen modernen Klassizismus des Tanzes des letzten Jahrhunderts zu beneiden, der eng mit der Musik, dem Theater und der Sprache verbunden ist und den inzwischen auch ein Publikum von Nichtfachleuten zu genießen vermag; nicht ohne Vergnügen und ein gewisses konzeptionelles Verständnis dafür, dass dieser inzwischen zu klassischen Formen geworden ist. Denken wir zum Beispiel an Merce Cunningham, Lucinda Childs, Pina Bausch, Caroline Carlson, Trisha Brown – jene Tänzerinnen und Tänzer, die in direktem Kontakt mit anderen zeitgenössischen Kunstformen und mit der Musik von John Cage, Philip Glass und Robert Wilson eine neue Idee von Performancekunst – von Multimedia, wie es heute genannt werden würde – mitgestaltet haben. Mit Vera Koppehel gewinnt die Eurythmie an Komplexität und Schönheit, die in vielen Fällen viele Formen der heutigen Körpersprache übertreffen. Als eine Kunstform und ein Wissen, das noch kommen wird. Als eine Kunstform, die dazu bestimmt ist, unzeitgemäß zu bleiben.

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